Traditionell umgibt Nachrichtendienste eine Aura des Geheimnisvollen, Mystischen. Seit 1953 fasziniert der von Ian Fleming erschaffene Agent James Bond Leser und Kinobesucher und auch moderne TV-Serien wie „Homeland“ oder „The Night Manager“ fesseln ein Millionenpublikum und erfreuen die Sender mit hohen Einschaltquoten. Die Faszination für Spione und Geheimagenten liegt in der Natur ihrer Tätigkeit: Sie ist aus naheliegenden Gründen geheim und bietet ein weites Feld für Spekulationen, Phantasien und Verschwörungstheorien. Die Skandale der jüngsten Zeit, vor allem die Enthüllungen des NSA-Whistleblowers Edward Snowden, haben dem „ältesten Gewerbe der Welt“ jedoch einen erheblichen Imageschaden zugefügt. Denn die Digitalisierung der Kommunikation und der Siegeszug des Internets haben die Arbeit der Nachrichtendienste nachhaltig verändert und für Außenstehende noch undurchsichtiger werden lassen. Selbst staatlichen Kontrollgremien scheinen die Dienste bisweilen zu entgleiten.
Der Kern der nachrichtendienstlichen Arbeit ist jedoch von der Antike bis heute unverändert geblieben: Die Dienste und ihre Mitarbeiter sammeln mit unterschiedlichen Methode sicherheitsrelevante Informationen und erstellen Analysen, mit denen sie einen zentralen Beitrag für politische Entscheidungsprozesse sowohl in Friedenszeiten als auch im Rahmen militärischer Konflikte leisten. Für die methodologisch-technologische Weiterentwicklung nachrichtendienstlicher Arbeitsweisen haben sich Krisen und Kriege, vor deren Hintergrund ein Einblick in die strategischen Planungen des Gegners von besonderer Bedeutung war, zumeist als äußerst fruchtbar erwiesen. Mit Blick auf das 20. Jahrhundert nimmt der Zweite Weltkrieg hier einen besonderen Stellenwert ein, denn kaum ein anderes Ereignis führte zu einer ähnlich umfassenden institutionellen, technologischen und politischen Neuausrichtung der Dienste aller beteiligten Nationen. Die Entschlüsselung des deutschen ENIGMA-Codes durch britische Kryptoanalytiker verschaffte Großbritannien einen erheblichen strategischen Vorteil während des weiteren Kriegsverlaufes und leistete einen maßgeblichen Beitrag für das heutige Forschungsfeld der Informatik.
Der Autor Falko Bell richtet in dem aus seiner Dissertation hervorgegangenem Buch über die britische Feindaufklärung im Zweiten Weltkrieg den Fokus allerdings nicht auf den technologischen Bereich der Spionagearbeit, sondern rückt den Einfluss menschlicher Quellen – human intelligence (HUMINT) – auf die Entscheidungsprozesse britischer Militärs und Regierungsvertreter zwischen 1939 und 1945 in den Mittelpunkt.
Ein großer Teil des von Bell verwendeten Quellenkorpus entstammt einem Archivfund seines Doktorvaters Prof. Sönke Neitzel, die die Vernehmungs- und Abhörprotokolle deutscher Kriegsgefangener in britischem Gewahrsam wieder entdeckte, systematisch erfasste und digitalisierte und in zwei Publikationen einen detaillierten Einblick in die Wahrnehmungen und Weltanschauungen deutscher Wehrmachtssoldaten während des Zweiten Weltkrieges gab.
In Bells Forschung stehen jedoch nicht die subjektiven Standpunkte deutscher Kriegsgefangener, sondern der Umgang britischer Analysten mit den auf diese Weise gewonnenen Informationen im Mittelpunkt. Sein Interesse gilt der Organisation sowie der Art und Weise der Aneignung von HUMINT durch britische Institutionen und den Verwendungsformen und dem Stellenwert, den dieses – vermeintliche oder tatsächliche – Expertenwissen auf die kriegsrelevanten Entscheidungen der britischen Verantwortlichen einnahm. Dabei ist sich der Autor durchaus bewusst, dass bei Informationen aus menschlichen Quellen anders als bei solchen, die mittels signal intelligence (SIGINT) generiert wurden, stets der Risikofaktor der Vertrauenswürdigkeit mitschwingt und lässt der Frage nach einer diesbezüglichen Einschätzung von HUMINT eine besondere Relevanz zukommen.
Tatsächlich schienen sich die britischen Nachrichtendienste dieses Umstandes bewusst zu sein und stützten sich in ihren Analysen nicht ausschließlich auf die Vernehmungen und Abhörprotokolle deutscher Kriegsgefangener, sondern auch auf die Aussagen von nach Großbritannien emigrierten Flüchtlingen und weiteren Informanten aus den neutralen Staaten Europas. Auch gelangten immer wieder verschlüsselte Nachrichten britischer Kriegsgefangener aus dem Dritten Reich nach Großbritannien, die ebenfalls von den Analysten in London herangezogen wurden. Insgesamt basiert Bells Forschung weitgehend auf solchen Unterlagen, deren Quellen in dem Bewusstsein handelten, Informationen an britische Institutionen weiterzugeben und nicht auf solchen, die im Zuge von verdeckten Ermittlungen oder bewussten Täuschungen gewonnen wurden.
Für den empirischen Teil der Arbeit untersucht der Autor den Stellenwert und Einfluss von HUMINT auf die britische Kriegsführung anhand dreier Fallbeispiele, in denen die aus human intelligence generierten Informationen auf jeweils unterschiedlichen Ebenen zum Tragen kamen: Die Luftschlacht um England 1940/41, die Bedrohung durch die deutschen Vergeltungswaffen V1 und V2 sowie die moralische Verfassung der deutschen Bevölkerung angesichts des sich wendenden Kriegsverlaufes, um auf dieser Basis Rückschlüsse auf den vorhandenen Durchhaltewillen der Deutschen zu ziehen.
Die Beispiele sind klug gewählt, bieten sie doch die Möglichkeit, den Umgang und Nutzen von HUMINT vor dem Hintergrund unterschiedlicher Kontextbedingungen, d. h. taktischer, operativer und strategisch-psychologischer Entwicklungen, darzustellen und etwaige Unterschiede hinsichtlich der Verwendungsmöglichkeit des gewonnenen Wissens aufzuzeigen.
Tatsächlich fällt Bells Fazit auch äußerst unterschiedlich aus: Im Falle der deutschen Luftangriffe auf britische Städte in der ersten Phase des Krieges spielte der durch HUMINT erzielte Wissensvorsprung keine zentrale Rolle. Als weitaus relevanter erwiesen sich in diesem Kontext die Informationen, welche die britische Aufklärung durch die Dechiffrierung deutscher Funksprüche und das Frühwarnsystem der Radarüberwachung erzielte, die ihnen konkrete Angaben über Zeitpunkt und Ort bevorstehender Angriffe lieferten, wodurch effiziente strategische Gegenmaßnahmen erst möglich gemacht wurden. Die über HUMINT generierten Informationen ermöglichten Rückschlüsse z. B. über die vorhandene Technologie der deutschen Luftwaffe, so dass die britische Kriegsführung ihre Abwehrmaßnahmen entsprechend modifizieren konnte.
Im Falle der deutschen V1- und V2-Waffen hatten die über HUMINT generierten Informationen hingegen einen zentralen Stellenwert und ermöglichten dem britischen Militär einen strategisch wichtigen Wissensvorsprung. Die von deutschen Kriegsgefangenen übermittelten Schlüsselinformationen hinsichtlich des technologischen Stands der deutschen Forschung und der Militärstrategie verschafften britischen Entscheidungsträgern den notwendigen Handlungsspielraum, um notwendige Gegenmaßnahmen in die Wege zu leiten und die Schlagkraft der V1 und V2 erheblich zu verzögern und abzumildern.
Am unzureichendsten erwies sich HUMINT für das dritte Fallbeispiel: Eine realistische Einschätzung hinsichtlich der moralischen Verfassung der deutschen Bevölkerung, die Aufschluss über einen möglicherweise bevorstehenden Zusammenbruch des Dritten Reiches hätte geben können, überstieg die Möglichkeiten britischer Analysten, nicht zuletzt auch deswegen, weil sich das verwendete Konzept von Moral auf einer nicht einheitlichen, in Teilen stark divergierenden Definition basierte. Hier, so Bell in seiner Schlussfolgerung, stießen die britischen Nachrichtendienste offenbar an die Grenzen der mittels HUMINT zu leistenden Aufklärungsarbeit.
Insgesamt leistete HUMINT zweifelsohne in einigen, jedoch nicht in allen Bereichen der britischen Kriegsführung einen strategisch wichtigen Beitrag. Der britische Wissensvorsprung vor allem im Bereich der Waffentechnologien erwies sich als großer Vorteil für den Verlauf des Krieges, während sich hingegen Einschätzungen und Vorhersagen bezüglich der inneren Einstellung der Deutschen kaum zuverlässig treffen ließen. Britische Nachrichtendienste investierten während des Zweiten Weltkrieges ein hohes Maß an Energie in die Aneignung und Auswertung von HUMINT und offenbarten damit die Bedeutung, die sie selber diesem Bereich ihrer Tätigkeiten zumaßen. In den Erarbeitungsprozess waren eine große Anzahl unterschiedlicher Institutionen und Abteilungen involviert, welche die entsprechenden Informationen zusammenführten und analysierten. Diese effiziente Form der Kooperation über die einzelnen Behördengrenzen hinweg bildete die Voraussetzung für die entsprechend wirkungsvolle Nutzung der gesammelten Informationen, die der britischen Kriegsführung einen maßgeblichen Wissensvorsprung verschaffte.
Mit HUMINT konzentriert sich der Autor nicht nur auf die älteste Form der Informationsgewinnung sondern auch auf den komplexesten Teil der intelligence-Forschung, denn menschliche Quellen sind von Natur aus weitaus weniger berechenbar und anfälliger für äußere Faktoren als beispielsweise über SIGINT beschaffte Informationen. Besonders deutlich wird dies an dem letzten der untersuchten Fallbeispiele. Insgesamt zeichnet der Autor ein umfassendes Bild hinsichtlich des Umgangs britischer Nachrichtendienste mit den aus HUMINT generierten Informationen nach und gibt damit einen differenzierten Einblick in die Arbeitswelt und Entscheidungsstrukturen der relevanten Institutionen Großbritanniens während des Zweiten Weltkrieges. Erschöpft ist dieser Forschungsbereich damit allerdings bei weitem noch nicht, wie auch der Autor in seinem Fazit vermerkt. Eine systematische Analyse weiterer Fallbeispiele oder auch ein unterschiedliche Staaten miteinbeziehender vergleichender Ansatz hinsichtlich des Umgangs mit HUMINT seien an dieser Stelle als nur zwei Möglichkeiten genannt, dieses Forschungsfeld weiter voranzubringen. Mit seiner Forschung hat Bell bereits einen elementaren Beitrag auf diesem Feld geleistet und den Wert, den Einfluss aber auch die Grenzen von HUMINT deutlich aufgezeigt.
Falko Bell, Britische Feindaufklärung im Zweiten Weltkrieg. Stellenwert und Wirkung der »Human Intelligence« in der britischen Kriegführung 1939-1945, Paderborn 2016, Verlag Ferdinand Schöningh GmbH, 410 Seiten, ISBN 978-3506784292 , 44,90 €.