Als der jüdische Kaufmann Mayer Blumenthal am 14. November 1918 vom Abzug der deutschen Besatzungstruppen erfuhr, ließ er alles stehen und liegen und eilte nach Hause. Wie viele andere wollte auch er seiner Freude über den Sieg Rumäniens Ausdruck verleihen und als Zeichen seiner Loyalität die rumänische Flagge hissen. Mayer Blumenthal war Mitglied einer lokalen Zweigstelle der „Uniunea Evreilor Pământeni“ (UEP), dem „Verband einheimischer Juden“, einer Organisation, die 1909 mit dem Ziel gegründet worden war, die rechtliche Gleichstellung aller rumänischen Juden zu erreichen. Wiewohl Rumänien neben Russland das einzige Land war, das seinen jüdischen Bewohnern die kollektive Einbürgerung noch bis 1919 vorenthalten sollte, hatte Mayer Blumenthal seine Loyalität dem rumänischen Staat gegenüber in der Vergangenheit mehrfach unter Beweis stellen können. Er hatte sowohl im Zweiten Balkankrieg als auch während des Ersten Weltkriegs für sein Land im Schützengraben gelegen. All dies bot Blumenthal im November 1918 jedoch keinen Schutz. Noch bevor er die Flagge anbringen konnte, bestürmten ihn seine rumänischen Nachbarn, die ihn wüst als Juden beschimpften, mit einem Schlagring bedrohten und ihn schlussendlich nötigten, die Fahne wieder abzunehmen.
Solche Szenen waren in diesen Tagen kein Einzelfall. Nach dem Abzug deutscher Truppen war es in mehreren Ortschaften zu gewalttätigen Übergriffen gegenüber Juden gekommen. Aus Bukarest, Brăila und Buzău wurden pogromartige Ausschreitungen mit mehreren Toten gemeldet. Nicht nur die Zivilbevölkerung beteiligte sich an derartigen Übergriffen. Jüdische Zeitungen berichteten in den nächsten Wochen wiederholt von Misshandlungen jüdischer Fahrgäste in Bahnhöfen und Zügen durch rumänische Soldaten.
Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war der Antisemitismus in Rumänien ein weit verbreitetes Phänomen gewesen, das sich mit Kriegsbeginn jedoch verschärfte. Dennoch versprachen sich viele Juden von einem Einsatz im Krieg eine Verbesserung ihrer sozialen und insbesondere rechtlichen Lage.
Um die Jahrhundertwende lebten auf dem Gebiet des damaligen Rumäniens rund 250.000 Juden, die 4,3 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten. Da nur einem Bruchteil die rumänische Staatsbürgerschaft verliehen worden war, hatte die überwiegende Mehrheit keinerlei politische Rechte, konnte kein öffentliches Amt bekleiden, durfte nur beschränkt öffentliche Schulen und Universitäten besuchen und war von bestimmten Berufen ausgeschlossen.
Vor diesem Hintergrund empfanden viele Juden die Kriegserklärung Rumäniens an Bulgarien 1913 als auch später den Eintritt Rumäniens in den Ersten Weltkrieg 1916 als Chance, um ihre Zugehörigkeit und Loyalität zum rumänischen Staat unter Beweis zu stellen und im wahrsten Wortsinne für ihre Emanzipation zu kämpfen. Bereits 1913 meldeten sich rund 20.000 jüdische Männer zur Armee. Bestärkt wurden sie durch Äußerungen führender rumänischer Politiker, die den jüdischen Soldaten und deren Familien die Einbürgerung in Aussicht stellten. Doch bereits kurze Zeit später zerschlugen sich alle Hoffnungen, dass „die Begeisterung, mit der die eingeborenen israelitischen Soldaten dem Ruf des Vaterlandes gefolgt sind, alle Vorurteile und alle Gegnerschaft entwaffnen würde“, so der vom Kopenhagener Bureau der Zionistischen Organisation 1918 herausgegebene Bericht zur „Judenpolitik der rumänischen Regierung“. Nach Beendigung des kurzen militärischen Engagements der rumänischen Armee im Zweiten Balkankrieg nahm die rumänische Regierung von der versprochenen Einbürgerung der jüdischen Kriegsteilnehmer wieder Abstand.
Dennoch standen bereits 1916 erneut 23.000 Juden in der rumänischen Armee unter Waffen. Der „Verband einheimischer Juden“ unterstützte die Kriegsteilnahme jüdischer Männer und knüpfte daran erneut die Hoffnung auf kollektive Einbürgerung.
Doch schon während des Kriegs sahen sich Juden und Jüdinnen dem Vorwurf der Illoyalität ausgesetzt. Sofort nach Ausbruch des Kriegs wurden zahlreiche Juden – aber auch Deutsche, Ungarn, Türken und Bulgaren, präventiv verhaftet, da sie im Verdacht standen, Verbindungen zum Feind zu unterhalten. Nachdem der Generalstab der rumänischen Armee jüdischen Soldaten und Zivilisten der ab 1916 von deutschen und österreichischen Truppen besetzten Territorien pauschal Kollaboration mit dem Feind vorgeworfen hatte, mehrte sich im unbesetzten Norden des Landes die Zahl der Denunziationen und auch die Polizei ging verstärkt gegen Juden wegen vermeintlicher Spionage, Verrat oder Preistreiberei vor.
Obwohl der rumänische Staat an der Front auf seine nicht-rumänischen Untertanen angewiesen war, behandelte er sie als potentielle Verräter, kriminalisierte und schikanierte sie. Damit dürfte der Erster Weltkrieg sowohl zu einer Ethnisierung der rumänischen Gesellschaft als auch zu einer Politisierung der hier lebenden Minderheiten substantiell beigetragen haben. Dennoch sind die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die rumänische Gesellschaft bislang so gut wie gar nicht untersucht worden.
Hier wird mein Dissertationsprojekt ansetzen und danach fragen, welchen Einfluss Balkankrieg und Erster Weltkrieg auf das Zusammenleben von jüdischer und nicht-jüdischer Bevölkerung hatten und ob sie es nachhaltig veränderten. Ausgangspunkt der Untersuchung soll der „Verband einheimischer Juden“ sein, dessen Ziel die rechtliche Gleichstellung aller rumänischen Juden und die Bekämpfung des Antisemitismus war.
Die Unterlagen des Verbandes, die im Archiv des Center for the Study of the History of Romanian Jews in Bukarest, in den Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem sowie in Yad Vashem überliefert sind, dokumentieren die Wahrnehmung des Kriegs, aber auch des Antisemitismus und der daraus entstandenen Konflikte aus der Perspektive der jüdischen Bevölkerung. Lage- und Stimmungsberichte aus dem Militärarchiv in Bukarest und Piteşti sowie Polizei-, Gerichts- und Verwaltungsakten aus rumänischen Lokalarchiven sollen zudem ergänzend herangezogen werden, um über die Begegnung von Juden und Nicht-Juden innerhalb der rumänische Armee sowie abseits der Schlachtfelder im zivilen Leben Auskunft geben zu können.
Anhand der Geschichte des Verbands, die vom Ausbruch des Balkankriegs 1913 bis zur Konsolidierung des neuen rumänischen Staates 1923 verfolgt werden soll, soll schließlich gezeigt werden, wie die Kriege die Strategien der jüdischen Bevölkerung Rumäniens im Kampf für gleiche Rechte und gegen den Antisemitismus formten und veränderten.
Die Dissertation entsteht im Kontext des Forschungskollegs „Der Erste Weltkrieg und die Konflikte der europäischen Nachkriegsordnung (1914-1923) oder die Radikalisierung des Antisemitismus“ des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin unter der Betreuung von Prof. Werner Bergmann und Prof. Ulrich Wyrwa.