Torsten Becker
Miszelle
Veröffentlicht am: 
19. September 2016

Am 19. Juli 1919 zogen alliierte Streitkräfte durch die Straßen Londons, um nach französischem Vorbild1 dem Ende des Ersten Weltkriegs und der anbrechenden Friedenszeit in einer Victory Parade zu gedenken. Ein zentraler Wegpunkt der Parade war hierbei der von Sir Edwin Lutyens entworfene Cenotaph. Dass es sich bei diesem „leeren Grab“ – so eine mögliche Übersetzung aus dem Altgriechischen – um eine temporäre Konstruktion handelte, zeigte bereits die Bauweise. Der Cenotaph wurde so zunächst nur zum Anlass der Siegesfeierlichkeiten aus weiß bestrichenem Holz in Whitehall im Londoner Regierungsviertel errichtet. Er war somit zunächst an ein Ereignis gebunden und nicht als dauerhaftes Denkmal konzipiert. Bereits im Folgejahr 1920 enthüllte König Georg V. jedoch einen aus Portland-Stein erbauten und somit auf Dauer errichteten Cenotaph, der die temporäre Ursprungskonzeption ersetzte. Der Tag der Enthüllung dieses „Denkmals“ markiert mit dem 11. November ein Datum, welches in den Folgejahren als „Armistice Day“ zu einem festen Bestandteil der britischen Erinnerungskultur wurde. Bis heute beruft man sich gerne auf die Initiation der Erinnerung im Rahmen des gewonnenen Ersten Weltkriegs. Der Cenotaph wurde zu einem Symbol für die Opfer des Krieges, aber gleichsam auch zu einem Symbol für den Zusammenhalt der Bevölkerung, die diese nicht vergessen will bzw. vergessen darf. Das Bauwerk ist bis heute fest im jährlichen Kriegsgedenken der Stadt London – und darüber hinaus im nationalen Gedenken des Vereinigten Königreichs – verankert, was z.B. im Jahr 2015 bei den Feierlichkeiten zum 100jährigen Gedenken an die Schlacht von Gallipoli erneut unter Beweis gestellt wurde.2

Der Cenotaph erfreute sich aber gerade zur Zeit seiner Erbauung nicht nur freudiger Nachfrage, sondern geriet in die Kritik konkurrierender Erinnerungskonzepte. So stand dem Monument das „Grab des unbekannten Soldaten“ in der Westminster Abbey entgegen, dem profanen, bewusst nüchternen Erinnerungsbau also ein Denkmal im religiösen Kontext. Trotz bestehender Differenzen hinsichtlich der Form der Erinnerung fand die Prozession zur Westminster Abbey im Rahmen der Feierlichkeiten zum „Armistice Day“ statt und schloss sich an die Enthüllung des neuen Cenotaph an, an dem bereits damals Kränze niedergelegt wurden. Es ist schwierig zwischen diesen beiden Denkmälern – hinsichtlich ihrer Erinnerungsfunktion – eine trennscharfe Linie zu ziehen. Auch wenn beide wohl alternativ konzipiert wurden, finden sie doch ihre Daseinsberechtigung in einer sich immer wieder erneuernden Sinngebungs- und Erinnerungsdimension. Das Konfliktpotenzial zeigte sich u. a. in der zeitgenössischen Presse, die den Cenotaph differenziert betrachtete:3 Vom imperialen und nationalen Symbol bis hin zum Schandfleck für die Christenheit verortete man das neue Bauwerk.4 Trotz aller Kritik und der Frage nach Alternativen blieb der Cenotaph zentraler Punkt der gelebten politischen Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in Großbritannien.

Im Gegensatz zu anderen Denkmälern, die in einem allgemein stark ansteigenden Denkmalsbau nach dem Ersten Weltkrieg5 ebenso regional errichtet wurden, gestaltet sich der Cenotaph als Nationaldenkmal äußerlich schlicht und neutral. Das Monument erinnert in seiner geometrischen Strenge an einen Obelisken und verfügt kaum über eine Symbolik. Vorlage für den Architekten Sir Edwin Lutyens war der Southampton Cenotaph, den er zuvor entworfen hatte.6 Der genaue Verlauf der Entstehungsgeschichte und Planung des Denkmals gestaltet sich schon aufgrund der feingliedrigen Abläufe komplex. Zu erwähnen sei an dieser Stelle lediglich die Beteilung des Premierministers David Lloyd George als Auftraggeber des Denkmals.7

Als äußerliche Merkmale sind einzig der Schriftzug „The Glorious Dead“, die Jahreszahlen des Ersten Weltkriegs in römischer Schrift sowie die in Stein gemeißelten Lorbeerkränze und die rahmenden Stofffahnen zu nennen. Ähnlich dem später und vollkommen anders konzipierten Scottish National War Memorial änderte man an der Gestaltung des Denkmals nach dem Zweiten Weltkrieg wenig. Im Fall des Cenotaph wurden lediglich die Jahreszahlen des Zweiten Weltkriegs an den Fahnenseiten eingeschlagen. Selbstredend hat der Einschnitt dieses Krieges dennoch merklich die Erinnerungskultur in Großbritannien verändert. Erbaute man die Kriegsdenkmäler nach dem Ersten Weltkrieg zumindest offiziell im Glauben für einen langfristigen Frieden und für die Freiheit in Europa gekämpft zu haben, so lieferte der Zweite Weltkrieg eine erschütternde Korrektur dieser Annahme. Der Fokus wurde verstärkt auf den Zusammenhalt der Bevölkerung gelegt und das Narrativ des „Blitz“ geschaffen, in dem die Menschen gemeinsam der Bedrohung aus der Luft trotzten. Bildikone dieser Erzählung wurde das Titelfoto des Daily Mirror vom 29. Dezember 1940, welches die Kuppel der St Paul’s Cathedral scheinbar unversehrt zeigt, umgeben nur vom Rauch der Bombardierung Londons durch deutsche Flieger.8

Obwohl der erneute Kriegsausbruch und der Zweite Weltkrieg das Gedenken an den Ersten Weltkrieg überlagerten, blieb das Gedenken an den Ersten Weltkrieg Kernbestand der britischen Erinnerungskultur. Hierfür sorgte auch die 1921 gegründete British Legion, die sich seit 1971 „Royal British Legion“ nennt, was ihren offiziellen Charakter als Wohltätigkeitsorganisation für die Veteranen und als Erinnerungsinstanz in Großbritannien erneut unterstrich. Gerade die Verbindung dieser beiden Bereiche beeinflusst die Einbindung und das Vergleichen jüngerer Kriegseinsätze in den Kernbestand der großen Konflikte des 20. Jahrhunderts. Der Cenotaph, der seit der Ergänzung der Jahreszahlen des Zweiten Weltkriegs keine Veränderungen erfahren hat, aktualisiert gleichsam seine Bedeutung durch die jährlichen Veranstaltungen, die von der Royal British Legion z. B. am Remembrance Sunday9 vor Ort durchgeführt werden. Somit bildete sich eine Tradition, die immer wieder um neue Gedenkinhalte erweitert werden konnte. Diese Gestaltungsvielfalt bietet sich hier gerade durch die schlichte und unspezifische äußere Gestaltung des Cenotaph an. Die Folie des Ersten Weltkriegs, ein mit Aufopferung erkämpfter Sieg, bot die Möglichkeit der Integration zukünftiger Konflikte in das Erinnerungsspektrum. Selbst nachdem durch das Wegsterben der Veteranen der Realbezug verloren ging, konnte darüber hinaus eine – teils verklärte – Erinnerung an die „glorreichen Toten“ mythisch erhalten werden. Sie wurde sogar recht früh durch bestimmte Riten innerhalb des jährlich begangenen Remembrance Sunday zum kulturellen Pflichtakt. So mahnt ein jährlich verlesener Auszug des Gedichts „The Fallen“ von Laurence Binyon zur Notwendigkeit einer Erinnerung an die Gefallenen des Krieges bzw. der Kriege mit den Worten:

„They shall grow not old, as we that are left grow old: age shall not weary them, nor the years condemn. At the going down of the sun and in the morning we will remember them.“10

 Die angesprochene Einbindung neuer Konflikte in die Erzähltradition wird heute u. a. durch Lernmaterialien, Öffentlichkeitsarbeit sowie die Übertragung des Festival of Remembrance11 und des Remembrance Sunday durch die BBC mit dazugehörigen Hintergrundgeschichten verschiedener Kriegsschicksale bewerkstelligt. Hier verbinden sich aufopferungsvolle Heldenmythen des Ersten und Zweiten Weltkriegs mit Einzelschicksalen – z. B. aus dem Afghanistan- und Irakkrieg – und formulieren so letztendlich auch einen Appell an Sympathie und Spendenbereitschaft. Dass die Mythen des Ersten Weltkriegs darüber hinaus nach wie vor Faszination ausüben, zeigte sich beispielsweise in den Planungen für die Veranstaltungen rund um das Jubiläum zum hundertjährigen Gedenken des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs in London. Die unter dem Namen „Blood Swept Lands and Seas of Red" am Tower of London installierten 888.246 Keramik-Mohnblumen des Künstlers Paul Cumming, welche die Londoner Festungsanlage in ein tiefes Rot tauchten, verkauften sich nicht nur in kürzester Zeit zum Preis von 25 Pfund pro Stück, sondern lockten so viele Besucher an, dass zeitweise öffentlich von weiteren Besucherströmen abgeraten wurde.12 Die Mohnblume, welche seit 1995 als offizielles Symbol der Royal British Legion fungiert, verdeutlicht die Einbindungsfähigkeit in das „Masternarrativ“ des Ersten Weltkriegs. In Anlehnung an die Mohnfelder der Kriegsschauplätze in Flandern, auf denen tausende britische Soldaten im „Great War“ gefallen waren, wurden sie – wie der Remembrance Sunday am Cenotaph selbst – zum Ausdruck für „all those who died in the service of their country“.13 Dass aber sogar dieser Mythos eine Grenze der Assimilationsfähigkeit zu haben scheint, zeigt sich in dem politisch und gesellschaftlich zu hinterfragenden Verharren auf überwiegend nationalen Erinnerungsakten, die immer zu Lasten einer gemeinsamen europäischen oder gar globalen Erinnerung bestehen. Zwar gibt es Projekte der Zusammenarbeit zwischen Briten, Franzosen und Belgiern, wie auch öffentliche Akte der Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich – erinnert sei lediglich an den Élysée-Vertrag von 1963 – doch sind dies immer zusätzliche Erinnerungskonstrukte, die zu den bereits bestehenden nationalen Gedenkfeiern hinzutreten. Der Bezugspunkt der Erinnerung vergrößert sich jedoch nicht, da das Selbstverständnis einer nationalen, regionalen oder thematischen Gruppenzugehörigkeit mit eigenen Interpretationsansätzen nicht zugunsten einer globalen Perspektive aufgegeben wird. Wenn emotionalisierende Elemente eingesetzt werden, dienen diese meist der Untermauerung der eigenen nationalen Geschichte, die höchstens um eine internationale Sichtweise ergänzt wird. Die transnationale Erinnerung wird hierbei aber nicht zum Kern des Gedenkens, nicht selbst zum neuen Masternarrativ. Zukünftige Forschungsvorhaben sollten die Bereitschaft zu einer globalen Erinnerungsform prüfen und weiterhin Aufschluss über länder- bzw. gruppenspezifische Interpretationen der Vergangenheit geben. Das Beispiel Cenotaph zeigt, dass eben diese öffentlichen Erinnerungen nicht über die Jahre konstant, sondern hinsichtlich ihres Inhalts und ihrer Ritualisierung dynamisch zu verstehen sind. Sie sind integrativ und erweitern hierbei bestehende Narrationsmuster. So wird verständlich, wieso an einem vermeintlichen Denkmal des Ersten Weltkrieges ebenso einem Soldaten aktueller Kriegseinsätze gedacht werden kann.

  • 1. Die französische Siegesparade fand wenige Tage zuvor am 14. Juli (Nationalfeiertag) ebenfalls unter Einbeziehung der Entente-Mächte statt.
  • 2. Official Commemorative Programme document for the service on the Cenotaph, Whitehall on 25 April 2015. Online unter: https://www.gov.uk/government/publications/the-gallipoli-campaign-commem.... (04.08.2015).
  • 3. Vgl. KING, ALEX: Memorials of the Great War in Britain. The Symbolism and Politics of Remembrance, Oxford 1998, S. 147.
  • 4. GREGORY, ADRIAN: The Silence of Memory Armistice Day 1919-1946, Oxford 1994, S. 199.
  • 5. Vgl. KING, S. 44.
  • 6. GLIDDON, GERALD / SKELTON, TIM: Lutyens and the Great War, London 2008, S. 38.
  • 7. Zur Entstehungsgeschichte vgl.: Ebd., S. 40f.
  • 8. CONNELLY, MARK: »We Can Take It!« Großbritannien und die Erinnerung an die Heimatfront im Zweiten Weltkrieg, in: Der Zweite Weltkrieg in Europa, hg. v. Echterkamp, Jörg / Martens, Stefan, S. 79-96; hier: S. 82.
  • 9. Der Remembrance Sunday findet alljährlich am nächstgelegenen Sonntag zum 11. November bzw. zweiten Sonntag im November statt.
  • 10. The Royal British Legion Poems of Remembrance. Online unter: http://branches.britishlegion.org.uk/branches/shipston/remembrance/poems... (30.11.2014).
  • 11. Das Festival of Remembrance ist eine Veranstaltung für Mitglieder der Royal British Legion, an der auch die Königsfamilie teilnimmt. Sie findet i.d.R. am Samstag vor dem Remembrance Sunday statt.
  • 12. Don't visit the poppies at the Tower of London. Online unter: http://www.telegraph.co.uk/history/world-war-one/11202631/Dont-visit-the... (30.11.2014)
  • 13. CROUCHER, MATT: The Royal British Legion. 90 Years of Heroes, London 2011, S.147.
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Cenotaph (Foto: Torsten Becker)
Cenotaph (Foto: Torsten Becker)
Cenotaph (Foto: Torsten Becker)
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