Anlässlich der Jahrestagung 2015 des Arbeitskreises Militärgeschichte e. V. in Chemnitz wurde am 27. November 2014 zum zehnten Mal der Wilhelm-Deist-Preis für Militärgeschichte verliehen. Ausgezeichnet wurde Stefan Noack M. A. für seine 2014 an der Freien Universität Berlin eingereichte Masterarbeit mit dem Titel "Von Papierkriegern und Phantasiestrategen. Ferdinand Grautoffs politisch-militärischer Zukunftsroman '1906 – der Zusammenbruch der alten Welt'". Der Wilhelm-Deist-Preis ist mit € 500,00 dotiert.
Laudatio
Die Arbeit behandelt den unter dem Pseudonym „Seestern“ schreibenden Autor, die Publikation und die Rezeption des oben genannten Zukunftskriegsromans aus dem Jahr 1905. Das Buch stellt bis heute einen Klassiker der deutschsprachigen Zukunfts- und der Kriegsbelletristik gleichermaßen dar, wird oft zitiert, aber wohl nur noch selten gelesen. Den politisch-militärischen Hintergrund bildet das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mit der Flottenrüstung, der Marokkokrise und dem sich ausbildenden deutsch-britischen Gegensatz. Oft übersehen – Noack weist in seiner Arbeit darauf hin – wird auch, dass der Roman „1906“ auch als literarische Reaktion auf den Globalisierungsstress dieser Jahre gelesen werden kann. Der Plot klingt für uns heute banal und ist schnell erzählt: ein militärischer Zwischenfall auf Samoa löst einen europäischen Krieg aus, dessen Parteien sich weitgehend an den zeitgenössischen Allianzen orientieren. Im Kern ist es ein deutsch-britischer Seekrieg, der in der Schlacht vor Helgoland gipfelt. Der Verlust der deutschen Hochseeflotte wird jedoch strategisch durch den Erfolg der deutschen Offensive in Frankreich kompensiert, so dass sich ein Patt einstellt. In diesem Moment brechen in den Kolonien Aufstände gegen die geschwächten europäischen Mächte aus, die dann zum Zweck einer gemeinsamen Abwehr der Gefahr von der Peripherie Frieden schließen.
Eine besondere Dynamik gewann die Veröffentlichung von „1906“ durch den Umstand, dass sich der Verfasser hinter einem Pseudonym verbarg. Es handelte sich um Ferdinand Heinrich Grautoff (1871-1935), Redakteur bei den Leipziger Neuesten Nachrichten, dessen Biografie Noack mit Akribie nachspürt und den er in das protestantische Bildungsbürgermilieu des Wilhelminismus einordnet.
Besonders interessant stellt sich die Reaktion des Reichsmarineamtes dar, wo das Buch zunächst als politisch inopportune Dilettantenarbeit abgelehnt wurde. Erst die breite und positive Rezeption des Romans ließ bei Admiral von Tirpitz einen Meinungsumschwung eintreten. Dieser erkannte das Potenzial von „1906“ im Hinblick auf eine Instrumentalisierung im Dienste der eigenen Flottenpropaganda. Dabei war Tirpitz im Übrigen nicht der erste, denn schon bei der Mutter aller Zukunftskriegsromane – Chesneys „The Battle of Dorking“ von 1871 – lässt sich der Zusammenhang zwischen Belletristik und Rüstungspropaganda herstellen. Bedeutsam ist Seesterns Buch auch deshalb, weil es eine Welle von mehr oder weniger gelungenen Repliken und Nachahmerpublikationen auslöste, mithin also bis heute genrebildendend wirkte. Auch diese Wirkungsgeschichte findet sich bei Stefan Noack kundig dargestellt.
Von der Verleihung des Preises wünsche ich mir, dass uns die Arbeit anregt, sich stärker als bisher aus historischer Perspektive mit Fragen der militärischen Prognostik zu befassen. Das gleiche gilt für den großen und materialreichen Themenkomplex Militär und Medien. Noacks Blick auf die Publizistik des Kaiserreiches lässt uns auch liebgewonnene Einschätzungen hinterfragen: Ist Seesterns Buch tatsächlich, wie man es mitunter las, ein literarischer Ausfluss des preußisch-deutschen „Militarismus“? Noack weist dagegen auf die Ambivalenz des Textes hin und er stellt die politische Anschlussfähigkeit an unterschiedliche politische Lager und gesellschaftliche Milieus heraus. „1906“ und der Autor „Seestern“ sind also weniger dort zu verorten, sondern vielleicht eher unter dem Paradigma der Bellifizierung. Grautoff ist ein Zivilist, der sich einen bisher als arkan-militärisch geltenden Stoff aneignet. Er fordert die Diskurshoheit des Reichsmarineamtes im Speziellen und des Militär im Allgemeinen heraus – und er trägt damit am Ende großen literarischen Erfolg davon. Grautoff steht damit am Anfang eines kommunikationsgeschichtlichen und wissensgesellschaftlichen Prozesses, in dessen Verlauf zivile Akteure und Netzwerke in Deutschland den Alleinvertretungsanspruchs des Militärs zu Themen wie Landesverteidigung, Rüstung oder strategischer Machtprojektion in Frage stellten. Grautoff stellt sich mit seinem Buch nicht unbedingt in Opposition zu sicherheitspolitischen Positionen von Marine und Militär. Er fragt aber eben auch nicht mehr um Erlaubnis nach.
Diese Geschichte von „Seestern“ und seinem Buch führt uns also zurück zu einem Thema, dem sich auch der Namenspatron dieses Preises zeitlebens gewidmet hat. Mit seiner Dissertation „Flottenpolitik und Flottenpropaganda“ von 1976 hatte Deist eine grundlegende Arbeit zur Kommunikationspolitik des Reichsmarineamtes vorgelegt. Bei Noack werden nun diejenigen, die bei Deist als professionelle Akteure in Erscheinung treten, zu Getriebenen einer öffentlichen Meinung, die sie selbst mit ins Leben gerufen hatten. Sie müssen reagieren und sie müssen sich arrangieren. Beide Geschichten – die von Deist und die von Noack – bilden somit zwei Seiten einer Medaille, und es macht Spaß, diese Medaille hin- und her zu drehen.
Dr. Markus Pöhlmann (Potsdam)