1914-1920
Tamás Kohut
Projektskizze
Veröffentlicht am: 
14. Juli 2014
DOI: 
10.15500/akm.14.07.2014

Der Feldmarschall-Leutnant Samu Hazai (1851-1942) wurde am 17. Januar 1910 zum Minister für Landesverteidigung des Königreichs Ungarn ernannt. Diesen Posten hatte er auch während des Ersten Weltkriegs bis zum Februar 1917 inne. Seine Verdienste wurden mit den höchsten Auszeichnungen gewürdigt: Nachdem er zum Geheimen Rat ernannt worden war, wurde er 1912 in den Stand eines Freiherren erhoben. 1916 wurde er zum Generaloberst befördert. Er war damit der hochrangigste Offizier jüdischer Abstammung in der Monarchie.

Im September 1920, also weniger als zwei Jahre nach dem Waffenstillstand, der die Kämpfe des Ersten Weltkriegs beendet hatte, wurde die Diskriminierung gegen Ungarns Juden mit der Verabschiedung des sog. Numerus Clausus-Gesetzes in die Sphäre der Staatspolitik gehoben worden. Bereits 1920 waren ungarische Juden durch öffentliche Gewalt, Pogrome und Weißen Terror oftmals in einer lebensgefährlichen Lage.

Wie konnte es zu einer so schnellen Radikalisierung des Antisemitismus in der ungarischen Gesellschaft kommen? Wie ist es möglich, dass zur Zeit des Dualismus im Königreich Ungarn, ab auch so "sensible" Ämter von Juden oder Personen jüdischer Abstammung bekleidet waren, wie das Beispiel Samu Hazais zeigt, im Jahre 1920 die sogenannten Rassenschützerverbände mehrere Zehntausend Mitglieder zählten und radikale Politiker, bekennende Rassenschützer Mitglieder der Regierungspartei waren? Was waren die Voraussetzungen dafür, dass die vor 1914 hauptsächlich latente Judenfeindlichkeit nach der Räterepublik die kollektive Bestrafung der Juden als Ziel hatte? Diese Fragen möchte ich in meiner Dissertation beantworten.

Als Ausgangspunkt dient dabei die Annahme, dass Ungarn schon vor dem Ersten Weltkrieg als eine antisemitisch geprägte Gesellschaft gelten kann. Die Beziehungen der nicht-jüdischen Mehrheit gegenüber den jüdischen Mitbürgern war von kühler Distanziertheit geprägt. Vor allem seit Anfang der 1890er Jahre formierten sich Verbände, Organisationen und politische Parteien, die die Ressentiments gegen soziologisch mehr oder weniger gut definierbaren gesellschaftlichen Gruppen als „Judenfrage" interpretierten. Kritik an Modernisierungsprozessen wurde in diesem Zusammenhang für die gesellschaftspolitischen Ziele der Antisemiten instrumentalisiert. Dennoch, der Antisemitismus konnte den zur Zeit des Dualismus bedeutsameren Liberalismus nicht verdrängen, auch wenn er sich als latente Judenfeindlichkeit im gesellschaftlichen Umgang beziehungsweise als unterschwellige Diskriminierung in Teilen des Staatsapparates manifestierte. Seit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs kamen allerdings allmählich Krisenanzeichen zum Vorschein: Missstände in der Kriegswirtschaft und Lieferengpässe, die mangelhafte Versorgung der Bevölkerung, die extrem hohe Inflation sowie die Entwertung der Reallöhne. Die schon vorher existierenden gesellschaftlichen und politischen Konflikte verschärften sich dadurch grundsätzlich. Seit 1916 gab es immer mehr politische und gesellschaftliche Gruppierungen, die sich im Interesse der eigenen politischen Ziele antisemitischer Parolen bedienten. Immer offener machten sie die Juden Ungarns für die Krisensymptome des Kriegs verantwortlich. 1918 wurde die Lösung der „Judenfrage" eines der meistdiskutierten gesellschaftspolitischen Themen. Die Elite des alten Regimes wurde zusammen mit dem „historischen Ungarn" und ihren liberalen Normen vom Zusammenbruch und den darauf folgenden Revolutionen förmlich weggefegt. Die konterrevolutionären Gruppierungen konnten so nach dem Scheitern der Räterepublik ihre Ideologie auch in Taten umsetzen.

Der Fokus meiner Dissertation liegt in erster Linie auf den gesellschaftlichen Gruppen, die durch ihre Mitgliedschaft oder ihre leitenden Positionen in verschiedenen Verbänden, Organisationen, Interessengruppen und politischen Parteien eine herausragende Rolle in der Radikalisierung und Verbreitung des Antisemitismus gespielt haben. Von Interesse ist vor allem das gesellschaftliche Milieu, das ihre judenfeindlichen Überzeugungen und Ziele breiten Schichten der ungarischen Gesellschaft vermittelte. Der politische Katholizismus, die verschiedenen Organisationen der Staatsbeamten, und die Studentenbewegungen stehen hier im Mittelpunkt. Bei diesen Gruppen lässt sich der Radikalisierungsprozess im Zeitraum von 1914 bis 1920 besonders gut verfolgen. Am Beispiel dieser Gruppen zeigt sich, dass im Untersuchungszeitraum nicht nur die gesellschaftspolitischen Forderungen des organisierten Antisemitismus radikaler wurden, sondern auch die Mittel. Die Studentenorganisationen beispielsweise behandelten als Erste Gewalt als legitimes Mittel zum Erreichen ihrer antisemitischen Ziele. Die Radikalisierung des Antisemitismus während des Ersten Weltkriegs hat allerdings nicht nur die schon vorher antisemitische orientierten Gruppierungen radikalisiert; auch gänzlich neue und viel radikalere politische Kräfte gewannen an Einfluss. Als organisierte politische Kraft konnte die radikale Rechte zwar keine politische Macht erringen, dennoch konnten sie unter Mithilfe von Rassenschützerverbänden, rechtsradikalen Studentengruppen, paramilitärischen Einheiten und der konterrevolutionären Regierung nahestehenden Politikern erfolgreich Druck ausüben um ihren antisemitischen gesellschaftspolitischen Zielen Geltung zu verschaffen.

Da die rechtsradikalen Organisationen, die während des Kriegs gegründet wurden und nach der Räterepublik an Einfluss gewonnen hatten, eine wesentliche Verantwortung bei öffentlicher Gewalt, Morden und Pogromen gegen Juden trugen, werden auch die Rassenschützverbände in meiner Dissertation genauer beleuchtet. Es liegt in der Natur der Sache, dass es oft kaum möglich ist, klare Grenzen zwischen den verschiedenen Analyseeinheiten der Dissertation zu ziehen. Der politische Katholizismus hatte genauso Vorkämpfer in den Studentenorganisationen, wie die radikale Rechte und die Rassenschützer nach 1919. Diese feinen Unterschiede waren allerdings für das Judentum Ungarns irrelevant: Sie mussten sich zwischen 1914 und 1920 eindeutig an ein verändertes Land anpassen, das auch den offenen Antisemitismus tolerierte und ermutigte. Letzterer Aspekt verbindet meiner Meinung nach dieses heterogene gesellschaftliche Spektrum von den Studentenorganisationen bis zu den paramilitärischen Einheiten der Rassenschützer. Diese Erfahrungen spiegelten sich in den Plänen, die im Sommer 1920 - keine zehn Jahre nach der Ernennung von Samuel Freiherr von Hazai zum Minister - auch vom Ministerpräsidenten Graf Pál Teleki in seiner Amtseinsetzungsrede erwähnt wurden. Demnach sollte es „unverlässlichen Elementen" (gemeint waren Juden und Arbeiter) im Militär nur noch erlaubt sein, in der Arbeiterkompanie zu dienen.

Meine Dissertation entsteht im Rahmen des Forschungskollegs "Der Erste Weltkrieg und die Konflikte der europäischen Nachkriegsordnung (1914-1923) oder die Radikalisierung des Antisemitismus" des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität in Berlin unter der Betreuung von Prof. Werner Bergmann, Prof. Ulrich Wyrwa und Prof. András Kovács (Central European University, Budapest).