Markus Pöhlmann
Aufsatz
Veröffentlicht am: 
16. November 2017
DOI: 
10.15500/akm.16.11.2017

Die Geschichte der im Verlauf des deutschen Einmarsches in Belgien verübten Verletzungen des Kriegsvölkerrechts im Sommer 1914 zählte politisch wie historiografisch zu den scheinbar abgearbeiteten Altlasten des Ersten Weltkrieges. Doch im vierten Jahr des Zentenariums ist das toxische Thema in der Fachwissenschaft plötzlich wieder auf der Tagesordnung.

Dabei ist der Streit so alt wie die Ereignisse selbst. Die Eskalation der Gewalt bildete, apostrophiert als „Rape of Belgium“, ab dem ersten Tag des Krieges einen elementaren Baustein der alliierten Propaganda gegen das Deutsche Reich und ein zentrales Argument bei der Entscheidung zum Kriegsbeitritt des Vereinigten Königreichs. Die Frage, ob deutsche Truppen beim Einmarsch in Belgien tausendfach Verbrechen an der Zivilbevölkerung begangen und willkürliche Zerstörungen im großen Umfang angerichtet hatten, war seit 1919 ein Kernthema der sogenannten Kriegsschuldforschung. Das gleiche galt für die Frage, ob diese Taten als Reaktionen auf Übergriffe von bewaffneten belgischen Zivilisten (Franktireurs) zu interpretieren waren.

Legionen von Historikern, Archivaren und Publizisten haben sich in der Zwischenkriegszeit mit kriminalistischer Akribie und bis zur endgültigen intellektuellen Erschöpfung diesen ersten Wochen des Weltkrieges gewidmet – in der Regel gesteuert und finanziert durch ihre jeweiligen Regierungen. Ab Ende der 1950er-Jahre wurde das Thema im Interesse einer umfassenden Aussöhnung zwischen Belgien und der Bundesrepublik Deutschland durch außenpolitisch inspirierte Forschungsarbeiten historisch vermeintlich „bereinigt“.1 In den folgenden Jahrzehnten traten die Verbrechen in Belgien 1914 gegenüber dem Fragenkomplex Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg in den Hintergrund. 2001 veröffentlichen die in Dublin lehrenden Historiker John Horne und Alan Kramer mit „German Atrocities, 1914. A History of Denial“ eine umfassende Gesamtdarstellung, die nun erstmals den methodischen Werkzeugkasten einer kritischen, dabei kultur- und erinnerungsgeschichtlich orientierten Militärgeschichte zur Anwendung bringen konnte. 2 Nach der Lesart von Horne und Kramer hätten die deutschen Soldaten bereits beim Einmarsch nach Belgien unter dem Eindruck einer Massensuggestion gestanden, der zufolge sie in Belgien – wie schon 1871 in Frankreich – eine allgegenwärtige Bedrohung durch irreguläre Kämpfer zu vergegenwärtigen hatten. Durch die Anstrengungen der ersten Gefechte, Empörung über das kriegsvölkerrechtliche Verhalten des Gegners, Alkoholkonsum, Beschuss durch eigene Truppe sowie ethnisch-konfessionelle Vorbehalte sei die Lage innerhalb von Tagen eskaliert. Am Ende dieses imaginierten Franktireurkrieges waren in Belgien (und im geringeren Umfang auch in Frankreich) mindestens 6.500 tote Zivilisten zu beklagen. Drei Jahre später erschien eine deutsche Übersetzung des Buches, das seither das Standardwerk zum Thema bildete. 3 Nun sind seit 2016 zwei Forschungsarbeiten veröffentlicht worden, die die Methoden und Thesen der Autoren von „German Atrocities“ grundlegend und dabei in scharfer Form in Frage stellen. Die Thesen von Gunter Sprauls „Franktireurkrieg 1914“ und Ulrich Kellers „Schuldfragen“ bildeten am 27. Oktober 2017 das Thema eines Workshops an der Universität Potsdam. 4 Kurz darauf griff „Der Spiegel“ die Diskussion der Veranstaltung auf. Das Nachrichtenmagazin zitiert den Historiker Gerd Krumeich, der einräumte, dass eine kritische Beschäftigung mit den Thesen von Horne und Kramer möglicherweise aus Gründen politischer Inopportunität unterblieben sei. Hat es also, wie es der Artikel insinuiert, in Hinsicht auf belgische Verantwortlichkeiten und Völkerrechtsverstöße ein „Schweigekartell unter Historikern“ gegeben? 5

Im Folgenden soll keine umfassende Kritik der in Rede stehenden Publikationen geleistet werden. Vielmehr ist auf zentrale Punkte der Diskussion hinzuweisen, die aus militärhistorischer Perspektive bis heute Desiderate der Forschung darstellen, und es soll herausgearbeitet werden, wo eine Revision der bisher anerkannten Forschungsergebnisse erforderlich erscheint. 6

Der Wert von „German Atrocities“

Es kann kein Zweifel bestehen, dass „German Atrocities“ zu den wichtigsten und einflussreichsten Veröffentlichungen zur Geschichte des Ersten Weltkrieges der letzten zwanzig Jahre zählt. Im Hinblick auf den Umfang der untersuchten militärgeschichtlichen Quellen und der Literatur hat es seinerzeit Maßstäbe gesetzt. Phasenweise lesen wir heute in den Beschreibungen moderne Gewaltgeschichte avant la lettre. In der Verbindung von Ereignis- und Wirkungsgeschichte war es für die Untersuchung von Kriegsverbrechen in seiner Zeit eine Pionierarbeit. Im Großen und Ganzen scheinen die vielfältigen Ursachen für die Gewaltdynamik für die deutsche Seite erkannt: ein Mix aus Vorprägungen und situativen Faktoren, über dessen genaue Zusammensetzung sich freilich streiten lässt. „German Atrocities“ war ein dichtes und meinungsstarkes Buch zu einem beklemmenden Thema; eines, das man immer wieder zur Hand nahm, selbst wenn man sich an vielen der Thesen rieb. Doch es war auch ein Buch, zu dem man im Verlauf eines mehrjährigen, vertieften Studiums immer mehr auf Distanz ging.

Einseitigkeit bei der Auswahl und der Bewertung der Quellen

Die Defizite des Buches sind im Prinzip früh erkannt worden, wenngleich die Wirkung der Kritik angesichts der Masse an Gefälligkeitsrezensionen und der ungeprüften Übernahmen der Thesen bis heute ziemlich beschränkt geblieben ist. Als wichtiger Kritikpunkt ist die Einseitigkeit bei der Auswahl und der Bewertung der Quellen zu benennen, auf die auch Spraul und Keller abheben. Dies gilt sowohl für individuelle Augenzeugenberichte als auch für amtliche Untersuchungsberichte einschließlich des britischen Bryce-Berichts. Während die belgischen Aussagen vielfach als Fakten angenommen werden, werden die deutschen in der Regel als Schutzbehauptungen oder als Folgen der Traumatisierung der Täter abgetan. 7 Bei der Einbeziehung deutscher Quellen weisen Spraul und Keller darauf hin, dass die Autoren umfangreiche Quellenbestände – namentlich die Regimentsgeschichten und Aussagen deutscher Soldaten vor Untersuchungsbehörden während und nach dem Krieg – nicht oder nicht im erforderlichen Umfang einbezogen haben. Dies trifft für die Zeugenaussagen sicher zu. Hier hat Ulrich Keller in der Tat einen Korpus aufgetan, der sich nicht ignorieren lässt. Bei den Regimentsgeschichten ist dagegen der Mehrwert kritisch zu hinterfragen. Zwar gelingt es Spraul, Horne und Kramer anhand der Regimentsgeschichten eine Vielzahl an sachlichen Fehlern nachzuwiesen. Sein Unvermögen, diese Publikationen quellenkritisch einzuordnen, schwächt aber die Schlagkraft seines Arguments. Insgesamt geht der Vorwurf der Kritiker dahin, dass sich in „German Atrocities“ ein recht kunstvoll arrangiertes System der Relativierung entfaltet findet. Dieses ermögliche es John Horne und Alan Kramer, einseitige Aussagen im Fließtext durch sachliche Einlassungen in den Endnoten wieder zu relativieren. Man muss jedoch nicht so weit gehen, den Autoren hier unredliche Arbeit vorzuwerfen, wie das Spraul und Keller tun. Vielmehr könnte dies auch schlicht als eine praktische Folge der Kollaboration von zwei Autoren oder aber als Scheitern am Stoff zu erklären sein.

Bewertung der Völkerrechtspraxis im preußisch-deutschen Heer

Die Darstellungen der Implementierung der völkerrechtlichen Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung (HLKO) in die Rechtspraxis im preußisch-deutschen Heer bis 1914 gehört sicher zu den schwächsten Teilen von „German Atrocities“; sie durchzieht ein Hautgout von Rabulistik. Nach der Deutung von Horne und Kramer habe die deutsche militärische Führung die Bestimmungen der HLKO nur formal, nie aber dem Geiste nach mitgetragen. Vielmehr sei nur der Gedanke „Not kennt kein Gebot“ leitend gewesen. Diese These scheint durchaus überlegenswert. Nur können die Autoren dafür kaum handfeste Belege ins Feld führen.

Die Rolle der belgischen Regierung in der Krise

Die Darstellung der deutschen Motivationen, der Handlungen und der Rechtfertigungen ist in „German Atrocities“ durchgängig sehr kritisch, wofür es angesichts der Dimension der Verbrechen auch allen Grund gibt. Allerdings fällt dagegen die historische Kritik bei der Untersuchung der belgischen Seite deutlich ab. Dies zeigt sich etwa bei der Frage, wie die Umstände der Mobilmachung der belgischen Territorialstreitkräfte (Garde Civique) und die Haltung der Regierung zu irregulären Kämpfern zu bewerten sind. Während Horne und Kramer die Problematik der Wehrverfassung durchaus einräumen, unterstellt Ulrich Keller die planmäßige Vorbereitung eines „Untergrundkrieges“. Für letztere Position werden sich kaum Belege finden lassen, auch offenbart sie Unkenntnis der belgischen Sicherheitspolitik. Nicht wilde, militärische Entschlossenheit sondern eine angesichts der Bedrohung verständliche Überforderung ist das Kennzeichen der belgischen Sicherheitspolitik im August 1914 gewesen. Doch auch diese Haltung kann eben bei der Eskalation der Gewalt eine Rolle gespielt haben. Es ist daher vielleicht gar nicht so zentral, die Rolle der belgischen Regierung bei Kriegsbeginn zu durchleuchten. Vielmehr sollte der Fokus auf der diplomatiegeschichtlichen Frage liegen, ob die Abschreckungsstrategie der kleineren neutralen Staaten, die vor 1914 darauf zielte, angesichts der eigenen militärischen Schwäche gegenüber den großen Mächten das Menetekel eines „Volkskrieges“ an die Wand zu malen, nicht am Ende kontraproduktiv war. Namentlich die Forderungen der Schweiz und Belgiens führten nämlich im Verlauf der Verhandlungen um die Haager Landkriegsordnung zu einer breiten Definition des Begriffs der Kriegspartei – und die diesbezüglichen Artikel 1 und 2 dieses Vertragswerkes bilden dann später ja die Sollbruchstellen des Vertragswerkes.

Franktireurspsychose

Auch die Argumentation von John Horne und Alan Kramer gegen die Vorwürfe, belgische Zivilisten hätten sich am Kampf beteiligt, überzeugt die Kritiker nicht. Zwar thematisieren Horne und Kramer die Anstrengungen der ersten Gefechte, Empörung über das kriegsvölkerrechtliche Verhalten des Gegners, Alkoholkonsum, Beschuss durch eigene Truppe sowie ethnisch-konfessionelle Vorbehalte immer wieder. Doch den Kern der Argumentation bilden nicht diese hauptsächlich situativen Faktoren, sondern die aus dem Umfeld der belgischen Kriegsschuldforschung (Fernand van Langenhove) entlehnte These einer „Franktireurspsychose“. Das Problem dieser auf den Krieg von 1870/71 rekurrierenden Deutung ist allerdings, dass hierfür kaum Belege existieren und dass auch die Methode Langenhoves, gemessen an heutigen sozialpsychologischen Standards, wissenschaftlich ganz und gar fragwürdig ist. Tatsächlich stellte der Deutsch-Französische Krieg für das deutsche Militär zu Beginn des Ersten Weltkrieges überhaupt keinen Referenzpunkt mehr dar. Längst war dieser von den neuen Kriegen des beginnenden 20. Jahrhunderts verdrängt worden. Und hier wird es interessant: denn tatsächlich lässt sich argumentieren, dass die Bedrohung durch irreguläre Kämpfer nach den Erfahrungen der Balkankriege, zumindest für die militärischen Fachleute, durchaus eine realistische war. Wenn also deutsche Soldaten im August 1914 tatsächlich irreguläre Kämpfer fürchteten, dann lag das, erstens, an der darauf ausgerichteten Drohkulisse der Neutralen, und, zweitens, an den neuen Kriegserfahrungen.

Beteiligung belgischer Zivilisten am Kampf

Horne und Kramer räumen Einzelfälle von zivilen Übergriffen auf deutsche Soldaten ein. Nach den Forschungen von Spraul und Keller scheint dies aber in weit größerer Zahl der Fall gewesen zu sein. Nehmen wir nur zwei prominente Fälle heraus: Bei den Kämpfen um Lüttich und beim Vorstoß auf Dinant legt schon die schiere Zahl der Meldungen und auch die taktische Situation die Möglichkeit einer Beteiligung von Zivilisten nahe. Militärgeschichtlich ist dies auch plausibel, denn die ersten Wochen des Krieges waren in allen Ländern von einer enormen Mobilisierungseuphorie gekennzeichnet, bei denen es zur spontanen Selbstermächtigung von Zivilisten kam. Die willkürlichen Straßenkontrollen dieser bewaffneten Dorfschützer und Spionenjäger stellten ein veritables Sicherheitsrisiko dar, dem Polizei und Militär erst mühsam Herr wurden. Selbst in den Staaten, die überhaupt nicht von gegnerischen Truppen bedroht waren, kam es zu Todesfällen und Übergriffen. Es ist deshalb durchaus nicht abwegig anzunehmen, dass die Spitzen deutscher Verbände und später die schwach bewaffneten Trains im Verlauf des Handstreichs auf die Festung Lüttich gerade auch auf solche bewaffneten Kleingruppen von Zivilisten trafen. Für die zeitlich späteren Ereignisse in Dinant liegen die Verhältnisse anders. Hier hatten nämlich französische Truppen die Stadt planmäßig zur Verteidigung ausgebaut, was der belgischen Bevölkerung Hoffnung und Anlass zur Beteiligung am Kampf gab. Bei ergebnisoffener Prüfung wird sich also auf der Basis der beiden Neuerscheinungen eine größere Zahl von Fällen ermitteln lassen, für die man die spontane Beteiligung von bewaffneten Zivilisten annehmen kann. Es werden sich aber auch viele Fälle finden lassen, wo unerfahrene deutsche Soldaten die hinhaltende und verdeckte Kampfführung regulärer belgischer und französischer Soldaten fälschlich als zivile Heimtücke interpretierten.

Dass die Beteiligung bewaffneter Zivilisten nicht, heroisch umgedeutet, Teil des nationalen Opfernarrativs und damit aktenkundig wurde, erklärt sich leicht aus dem weiteren Verlauf des Krieges. In den folgenden vier Jahren deutscher Besatzung war die Rede über diese Ereignisse lebensgefährlich und auch in der Zwischenkriegszeit war dieser Aspekt vor dem Hintergrund der staatlich gelenkten Kriegsschuldforschung inopportun. Das Resultat war die Ausbildung einer gesamtgesellschaftlichen Omertà in Belgien, die für die Geschichtswissenschaft spätestens seit dem Schwinden der Erlebnisgeneration ein veritables Quellenproblem darstellte.

Die Berechnung der Opferzahlen

Kritik hat in „German Atrocities“ auch die Art der Berechnung der zivilen Verluste hervorgerufen. Die von Horne und Kramer präsentierte Gesamtzahl der Opfer deutscher Kriegsverbrechen, die leider durchgehend unpräzise als „Atrocities“ bezeichnet werden, beinhaltet nämlich in zwei Drittel der Ereignisse Todesfälle, die sich im unmittelbaren Verlauf von Kämpfen ereigneten. Damit soll nicht gesagt sein, dass die von Horne und Kramer genannten Zahlen deshalb um zwei Drittel zu hoch angesetzt sind. Es liegt aber auf der Hand, dass sich in diesem Teil der Statistik Todesfälle verbergen, die als bedauernswerte, aber für eine Statistik zu Kriegsverbrechen ungeeignete Kollateralschäden der Kämpfe zu bezeichnen sind.

Probleme der Rezeption

Es ist schon kurios: Es waren ein Kunsthistoriker und ein pensionierter Lehrer, die die Debatte um „German Atrocities“ angestoßen haben. Die Fachwissenschaft hat weitgehend durch Ignoranz geglänzt. Dabei haben beide Kritiker den Hebel an jeweils einem spezifischen Quellenkorpus angesetzt. Ihre Urteile sind mitunter beckmesserisch und der Duktus polemisch; die Kontextualisierung fehlt; politische bzw. generationelle Motive fließen in die Kritik ein; als wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten wären beide ungenügend. Das ändert aber alles nichts daran, dass bei der Dekonstruktion der Methoden und Schlussfolgerungen von Horne und Kramer in der Summe eine kritische Masse erreicht wurde. Man wird „German Atrocities“ in Zukunft anders lesen müssen.

Wenn im „Spiegel“ von einem akademischen „Schweigekartell“ die Rede ist, so trifft dieser Vorwurf vielleicht gar nicht in Schwarze. Vielmehr sollte von „Zitierkartellen“ die Rede sein, denn erst diese haben zum Erfolg des Buchs geführt. Zu viele haben das Buch zitiert, aber zu wenige haben es kritisch gelesen. Die Vermengung historiographischer und politischer Diskurse, die sich auch bei Daniel Goldhagen und Christopher Clark beobachten ließ, hat also die Rezeption der „German Atrocities“ maßgeblich beeinflusst. Man hat sich bestenfalls die vermeintlichen Opferzahlen aus dem Schlusswort zusammengekramt, deren Zustandekommen aber nie geprüft. Auch ohne unmittelbares Zutun der Autoren ist „German Atrocities“ außerdem zu einer Hauptquelle der Sonderwegs-Historiker vom Schlage einer Isabel Hull oder eines Jeff Lipkes aufgewachsen, die auf methodisch fragwürdige Art eine Kontinuitätslinie nach Auschwitz zu konstruieren suchen. 8 Man kann sich als Autor eben seine Leser nicht aussuchen.

Schlussfolgerungen

Treten wir einen Schritt zurück und betrachten das Gesamtbild: Wenn wir über Belgien 1914 sprechen, dann sprechen wir vom Zusammenbruch der einigermaßen kunstvoll und im guten Willen konstruierten, völkerrechtlichen Trennlinie zwischen militärischer und ziviler Sphäre. Wir sprechen auf deutscher Seite von einem beispiellosen Zusammenbruch der militärischen Ordnung. Wir sprechen von massiven Kriegsverbrechen und wir sprechen von erbarmungsloser Härte, wo wenige Monate später in ähnlichen Situationen vielleicht die gewachsene Kriegserfahrung individuelle wie kollektive Handlungsalternativen eröffnet hätte. Das bedeutet aber nicht, dass der Stand der historischen Forschung zu den Motiven, den Handlungen und den Deutungen auf beiden Seiten in Stein gemeißelt bleibt. Was also tun? Als der Verfasser kürzlich das Thema mit einem belgischen Historiker diskutierte, schlug dieser spontan vor: „Dann müssen wir eben eine deutsch-belgische Historikerkommission initiieren und das ganz Thema nochmal anpacken“. Bei aller Sympathie für die Idee – aber das wäre der sichere Weg, das Projekt einen weichgespülten Tode sterben zu lassen. Übergeordnete politische Interessen – und eine solche Kommission wäre nur unter einem außen- und kulturamtlichen Schirm zu initiieren – sind ja von jeher die Krux bei diesem Themenkomplex gewesen.

Es wird nur über historiografische Kärrnerarbeit gelingen. Fallbeispiele recherchieren, Kirchenbücher, Polizeiakten und Kriegstagebücher studieren. Dafür wird mehr genuines Interesse an Militär und Kriegsvölkerrecht erforderlich sein, als der kulturhistorisch orientierte Mainstream der Forschung bislang aufgebracht hat. Beides sind keine arkanen Wissensbestände. Auch bieten die Gewaltforschung und die Militärsoziologie heute neue Zugänge.

Am meisten bedarf es aber der Internationalisierung, denn wir reden von einer spezifischen Form von Anfangsphasenverbrechen, die in unterschiedlicher Dimension und Systematik 1914/15 an vielen Fronten verübt wurden. Die Arbeiten von Alexander Watson und Oswald Überegger liefern hierzu inzwischen wertvolle Anknüpfungspunkte. 9 Alan Kramer selbst hat später mit seinem Buch „Dynamics of Destruction“ den bis heute leider zu wenig rezipierten Versuch einer international vergleichenden Analyse der Massengewalt im Ersten Weltkrieg unternommen. 10 Dabei darf Internationalisierung keinesfalls als Strategie der Relativierung missbraucht werden. Aber gerade für Themenkomplexe wie Anfangsphasenverbrechen, Besatzung, ethnische Säuberung und Völkermord kann die vergleichende Herangehensweise das Wissen um die Militär- und Gewaltgeschichte des Ersten Weltkrieges erweitern.

Ein Buch ist keine Wehrmachtausstellung, bei der man das Team austauschen und eine Neufassung vorlegen kann. Wir werden mit „German Atrocities 1914“ leben müssen. Sein Wert liegt schon daran, 100 Jahre nach den historischen Ereignissen noch einmal eine Kontroverse ausgelöst und (hoffentlich) neue Forschungen angeregt zu haben. Das ist mehr, als viele andere jemals leisten.

  • 1. Siehe Franz Petri und Peter Schöller, Zur Bereinigung des Franktireurproblems von 1914, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 9 (1961), S. 234-248.
  • 2. John Horne und Alan Kramer, German Atrocities 1914. A History of Denial, New Haven und London 2001.
  • 3. Einen kurzen Überblick über die kritische Rezeption bietet die Besprechung von Peter Hoeres über Spraul, Gunter: Der Franktireurkrieg 1914. Untersuchungen zum Verfall einer Wissenschaft und zum Umgang mit nationalen Mythen. Berlin 2016, in: H-Soz-Kult 11.08.2016.
  • 4. Gunter Spraul. Der Franktireurkrieg 1914. Untersuchungen zum Verfall einer Wissenschaft und zum Umgang mit nationalen Mythen, Berlin 2016, und Ulrich Keller, Schuldfragen. Belgischer Untergrundkrieg und deutsche Vergeltung im August 1914, Paderborn 2017.
  • 5. Klaus Wiegrefe, Furchtbare Reaktionen, in: Der Spiegel 45/2017, S. 44.
  • 6. Ich habe bereits an anderer Stelle zu einzelnen der hier in Rede stehenden Punkte Stellung bezogen. Siehe Markus Pöhlmann, John Horne, Alan Kramer, German Atrocities, 1914 [Rezension], in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 64 (2002), S. 564-565, und ders., Über die Kriegsverbrechen von 1914, in: Flavio Eichmann, Markus Pöhlmann, Dierk Walter (Hg. in Verbindung mit Birgit Beck-Heppner), Globale Machtkonflikte und Kriege. Festschrift für Stig Förster zum 65. Geburtstag, Paderborn 2016, S. 125-144.
  • 7. Horne/Kramer, German Atrocities, S. 90, 125. Hier wird die Traumatiserung von Augenzeugen – und damit die Schlussfolgerung: die Unzuverlässigkeit ihrer Zeugnisse – bezeichnenderweise nur für die deutschen Soldaten angenommen.
  • 8. Isabel Hull, Absolute Destruction. Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany, Ithaca 2005, und Jeff Lipkes, Rehearsals. The German Army in Belgium, August 1914, Leuven 2007.
  • 9. Oswald Überegger, „Man mache diese Leute, wenn sie halbwegs verdächtig erscheinen, nieder“. Militärische Normenübertretungen, Guerillakrieg und ziviler Widerstand an der Balkanfront 1914, in: Bernhard Chiari/Gerhard P. Groß (Hg.), Der Balkan – Raum und Bevölkerung als Wirkungsfelder militärischer Gewalt. München 2009, S. 121-136; Alexander Watson, „Unheard-of Brutality“: Russian Atrocities against Civilians in East Prussia, 1914-1915, in: Journal of Modern History 86 (2014), S. 780-825.
  • 10. Alan Kramer, Dynamic of Destruction. Culture and Mass Killing in the First World War. Oxford 2009.
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