Die Aussage, dass im Militär Entscheidungen getroffen werden (müssen), dürfte landläufig sicher als Binsenweisheit wahrgenommen werden. Auch die Herausgeber des vorliegenden Bandes verweisen in ihrer Einführung darauf, stellen allerdings gleichwohl ebenso berechtigt fest, dass „in der Forschung bislang weitgehend unklar geblieben ist, was genau darunter zu verstehen ist“ (S. 11). Und um die Verwirrung zu komplettieren, zitieren Clauss und Nübel jüngere Arbeiten, die darauf abheben, dass es beim Entscheiden nicht um das „Finden eines optimalen Ergebnisses“ ginge, es zudem keinen rationalen Prozess beschreibe und das Konzept „Rationalität“ ohnehin in Frage stünde (Ebd.).
Fragen stellen sich in diesem Kontext also überraschend viele und bildeten die Motivation zu einer Tagung des Arbeitskreis Militärgeschichte in Kooperation mit dem SFB 1150 „Kulturen des Entscheidens“ im Oktober 2017 in Münster, deren Tagungsband nun vorgelegt werden konnte. Sein erklärtes Ziel ist es, „epochenspezifische Befunde aufzugreifen und kritisch für die Militärgeschichte zu prüfen“ (S. 13). Dazu wurden insgesamt 14 Beiträge aus ganz unterschiedlichen Epochen von der Antike bis ins 20. Jahrhundert zusammengetragen und im jeweiligen zeitlichen Kontext ausgewertet. Operationalisiert wurden sie durch die Verteilung auf drei Abschnitte, die sich aus Sicht der Herausgeber „am Verlauf des Entscheidens orientieren: Voraussetzungen, Prozesse, Repräsentationen“ (S. 19).
Die durchweg lesenswerten Beiträge reichen von den „Antike[n] Handlungsanweisungen zum militärischen Entscheiden“ (Simon Puschmann) bis zur „Auftragstaktik im preußisch-deutschen Heer 1869 bis 1945“ (Marco Sigg) im ersten Abschnitt, vom „Entscheiden und Militär in Byzanz“ (Michael Grünhart) bis zum „Roi Connétable in der Frühen Neuzeit“ (Alexander Querengässer) im zweiten und von der „Ikonographie militärischer Entscheidungen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert“ (Thomas Weißbrich) bis zu „Wilhelm I and the Military Decision Making Process of the Prussian during the Franco-Prussian War“ (Frederik Frank Sterkenburgh) schließlich im dritten. Auch „Hitler als militärischer Entscheider“ (Roman Töppel) fehlt nicht, auch wenn es in diesem hochinteressanten Aufsatz im umgekehrten Falle darum geht, wie man die eigene Verantwortung als militärisch Verantwortliche nach der Katastrophe auf den vermeintlich unbelehrbaren „militärischen Dilettanten“ abwälzte. Abgerundet wird der Band durch eine 23seitige „Prolegomena zu einer dezisionistischen Führungskultur des Militärs“ von Wolfram Pyta sowie die mit 40 Seiten sehr umfangreiche Einführung durch Clauss und Nübel.
Clauss und Nübel gehen davon aus, dass Entscheiden „als soziale Praxis begriffen [wird], die als kommunikativer Prozess stark von den jeweiligen sozio-kulturellen Rahmenbedingungen abhängig ist“ (S. 15). Im vorweggenommenen Ergebnis des Bandes stellen sie fünf kennzeichnende Spezifika und Spannungsverhältnisse für das Militärische Entscheiden über die Zeitläufte hinweg heraus: „Absolutheit, Kontingenz, Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Organisation“ (S. 18).
Sie bemängeln, dass in der bisherigen geschichtswissenschaftlichen Forschungsentwicklung Entscheiden „nicht […] als historisches Problem begriffen“ worden sei (S. 23). Zwar würden „Entscheider zu Akteuren der Geschichte“, dabei stünden jedoch die von ihnen ausgelösten Ereignisse im Blickpunkt, in der Militärgeschichte beispielsweise häufig Schlachten, zumal wenn sie zu „Entscheidungsschlachten“ (S. 24) (v)erklärt worden wären. Doch auch in diesem Kontext würde lediglich die Entscheidung anhand ihrer Folgen, nicht aber an sich diskutiert. Bestenfalls seien hierbei die Motive noch von Belang, nicht jedoch „Vorgeschichte und kulturelle Bedingungen des Entscheidens“ (S. 28).
Beim anschließenden Gang durch die Epochen stellen die Herausgeber dann fest, das Entscheiden habe sich über die Zeitläufte hinweg „von einem Eliten- zu einem Gesellschaftsprojekt“ (S. 29) entwickelt, dabei sei Entscheidungsfähigkeit indes stets als Führungsqualität erschienen. Trotz aller Unübersichtlichkeit von Schlachtfeldern und Kriegen insgesamt Überblick und Urteilsvermögen zu behalten, wurde als persönliche Auszeichnung markiert. Für Clauss und Nübel ist damit klar, „dass das Entscheiden zu allen Zeiten als ein zentrales Wesensmerkmal militärischer Führung betrachtet wurde“ (S. 41), „dieser Anspruch aber mit unterschiedlichen Rahmenbedingungen harmonisiert werden [musste], weil militärisches Entscheiden nicht nur militärischen Argumentationsmustern unterworfen war“ (S. 42). Damit schließen sie den Bogen zu ihrem Eingangsstatement und unterstreichen die Notwendigkeit des selbst lancierten Diskurses. Sie werfen dabei die Frage auf, ob sich das Militär in diesem Kontext vielleicht sogar „als paradigmatisches Beispiel für die Entscheidungsgesellschaft der Moderne fassen [lässt]“ (Ebd.).
In seiner folgenden „Prolegomena zu einer dezisionistischen Führungskultur des Militärs“ labelt Wolfram Pyta „Militärisches Entscheiden“ als Brückenthema zwischen politik-, militär- und kulturhistorischen Fragestellungen. In seinem Beitrag vertieft Pyta den Bereich der militärischen Entscheidungskultur. Jene definiert er als „eine kontextspezifische Konfiguration von Wissensbeständen und Deutungsmustern, welche die Bedingungen der Möglichkeit zu bewusster Selektion von Handlungsalternativen schufen – mit dem erklärten Ziel, optimale Entscheidungen zu treffen“ (S. 50). Die Aufgabe der Militär-, insbesondere der Operationsgeschichte sieht er darin, „den Nukleus des Entscheidungsvorgangs herauszuschälen und die Kontexte zu beleuchten, unter denen Entscheidungen so und nicht anders getroffen wurden“, mithin also als „Ordnungsstifter“ (S. 52).
Zusammen mit der Einführung durch die Herausgeber hat Pyta damit die Marksteine für den angedachten Diskurs gesetzt, der in den folgenden Kapiteln die Thematik auf der inhaltlichen und enormen zeitlichen Breite aufreißt. Das darf durchaus als erster Aufschlag verstanden werden, der nach Mustern sucht und zu weitergehenden Forschungen anregt. So fordern Clauss und Nübel selbst, „dass Analysen des militärischen Entscheidens nicht nur auf die bewaffnete Macht selbst blicken sollten, sondern die Wechselwirkungen zwischen Militär und Gesellschaft berücksichtigen müssen“ (S. 27) – mithin eine selbstverständliche Voraussetzung nicht nur innerhalb der Modern Military History beziehungsweise der „Militärgeschichte in der Erweiterung“. Wenn die Herausgeber dazu feststellen, dass die „Kontingenz des Krieges […] durch Verwissenschaftlichung, Ausbildung sowie Verregelung und Institutionalisierung des Entscheidens beherrschbar gemacht werden [sollte]“, sich damit „das Militär als Bestandteil der modernen ‚Entscheidungsgesellschaft‘, die Entscheiden reflektierte und – so die These der Forschung – offenbar immer mehr zu entscheiden hatte“ (S. 41), dann ist das ein wichtiger, gleichwohl kaum überraschender Befund. Das stellt freilich nicht den Ansatz von Tagung und Sammelband in Frage, einen Prozess zu untersuchen, der allgemein als bekannt wahrgenommen wird, obwohl er im historischen Kontext noch gar keine Bearbeitung gefunden hat. Diese Lücke zunächst einmal auszuleuchten und erste Anregungen zu geben, ist nicht nur aller Ehren wert, sondern durchweg inspirierend.
Martin Clauss/Christoph Nübel (Hg.), Militärisches Entscheiden. Voraussetzungen, Prozesse und Repräsentationen einer sozialen Praxis von der Antike bis zum 20. Jahrhundert. Campus Verlag: Frankfurt am Main/New York 2020, ISBN 978-3-593-51174-0, 496 S., 52,00 €.
Zitierempfehlung: John Zimmermann, Review zu Martin Clauss, Christoph Nübel (Hg.), Militärisches Entscheiden. Voraussetzungen, Prozesse und Repräsentationen einer sozialen Praxis von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, in: Portal Militärgeschichte, 08. November 2021, URL: https://www.portal-militaergeschichte.de/content/zimmermann_zu_clauss_nuebel_militaerisches_entscheiden, (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).