Teil X der Interviewreihe: 25 Jahre Arbeitskreis Militärgeschichte e.V. (1995–2020)
Daniel R. Bonenkamp/Takuma Melber
Interview
Veröffentlicht am: 
14. Juni 2021

Herr Nübel, Sie sind Träger des Wilhelm-Deist-Preises 2008. Woher stammt Ihr Interesse für Militärgeschichte?

Christoph Nübel: In einer etwas drastischen Formulierung hat Marc Bloch den (damals noch fast ausschließlich männlichen) Historiker mit einem „Menschenfresser“ verglichen: „Seine Beute weiß er dort, wo er Menschenfleisch wittert.“1 Bloch interessierte sich natürlich weniger für zweifelhafte Praktiken der Nutrition, sondern wollte darauf hinweisen, dass Geschichtswissenschaft die „Wissenschaft von den Menschen“ ist. Das ist der Punkt, der mein Interesse geweckt hat: Wie kann es sein, dass das Denken und Handeln des Menschen sowie seine Beziehungsordnungen immer wieder starken Veränderungen unterworfen waren? Ich fand es faszinierend, dass einst gültige Denk- und Handlungsmuster nur kurze Zeit später bereits erheblich transformiert oder sogar obsolet sein konnten.

Auf die Spitze getrieben werden solche Entwicklungen im Krieg, der Dasein, Weltbilder und Wertordnungen grundsätzlich herausfordert und transformiert. Das Militär als „totale Institution“, wie Erving Goffman es genannt hat, konnte die genannten Dimensionen auch in Friedenszeiten maßgeblich prägen. Krieg und Militär stellten die Menschen vor besondere Herausforderungen, weil sie oftmals eine fremde Welt bildeten, für die eigene Strategien der Anpassung entwickelt werden mussten. Sie erlauben es deshalb, wie im Brennglas menschliche Strategien des Lebens und Überlebens zu studieren.

 

Woher und wie gut kannten Sie seinerzeit den AKM und den WDP?

Christoph Nübel: 2008 wurde ich auf ein Plakat des AKM aufmerksam, auf dem der WDP ausgeschrieben war. Es hing in der Bibliothek des Historischen Seminars in Münster, wo ich studierte. Ich hatte es auch in den Jahren zuvor schon gesehen, aber nun hielt ich endlich die Magisterarbeit in den Händen, die ich auf den Postweg geben konnte. Ich sandte die geforderten zwei Exemplare an Sönke Neitzel, der damals in Mainz tätig und im Vorstand des AKM war. Der AKM war mir zu dieser Zeit nicht nur wegen des Preises, sondern auch über seine Tagungsbände und die Website bekannt.

 

Hand aufs Herz, war Ihnen der Name Wilhelm Deist zu dieser Zeit ein Begriff? Inwiefern sind Sie denn ihm oder militärgeschichtlichen Themen in Ihrem Studium begegnet?

Christoph Nübel: Das Studium der neuzeitlichen Militärgeschichte war und ist ohne eine Berührung mit dem Werk Wilhelm Deists kaum möglich. Ich hatte das Glück, bei Bernhard Sicken2 eine ganze Reihe an Veranstaltungen zur Militärgeschichte besuchen zu können, für die immer wieder Texte Deists heranzuziehen waren. Einen meiner Studienschwerpunkte hatte ich auf die Zeit des Kaiserreiches gelegt. Damit bewegte ich mich auf einem Feld, das Deist intensiv bestellt hat und dem ich mich auch im Rahmen meiner Magisterarbeit widmete. Die schließlich mit dem WDP ausgezeichnete Studie analysiert das Verhältnis von Militär, Stadt und Zivilbevölkerung, indem sie die Einigkeitspropaganda und den Kriegsalltag an der Heimatfront im Ersten Weltkrieg in Münster untersucht. Deist selbst hat zahlreiche Facetten der innenpolitischen Stellung des Militärs im Kaiserreich beleuchtet.3 Die von ihm verantwortete Quellensammlung „Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914-1918“ – mit vielen Dokumenten des in Münster ansässigen stellvertretenden Generalkommandos VII. Armeekorps – ist nach wie vor ein Standardwerk. Es steckt also sehr viel Deist in der Arbeit. In seiner Laudatio 2008 hielt Markus Pöhlmann fest, dass ein Rekurs auf den Namensgeber des Preises „keine Vorbedingung für eine Prämierung“ sei – wer weiß, ob es nicht doch geholfen hat.

 

Die Verleihung des WDP kurz nach Studienabschluss muss ein besonderer Moment in Ihrem jungen Historikerleben gewesen sein. Welche Erinnerungen haben Sie heute an die Preisverleihung des WDP?

Christoph Nübel: Den Preis habe ich als junger Doktorand auf der Tagung in Jena bekommen. Ich war beeindruckt, wie zugewandt und unprätentiös die versammelten Wissenschaftler waren. Es war eine wunderbare Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen und Fragen zu stellen. Die Zeremonie hat – und das finde ich heute noch wichtig und gehört für mich zu den Höhepunkten einer jeden AKM-Jahrestagung – den Preisträger und sein Werk würdig in den Mittelpunkt gerückt. Das hatte ich noch nicht erlebt, zumal mir meine Abschlussurkunde nach dem Studium vom Prüfungsamt wenig feierlich in einem braunen Umschlag zugestellt worden war. „Bitte nicht knicken“ war ein gutgemeinter Hinweis der Westfälischen Wilhelms-Universität an den Postboten, dem er angesichts meines kleinen Briefkastens leider nicht Folge leisten konnte.

 

Sie sind der Militärgeschichte bis heute treu geblieben. Inwiefern hat der WDP Ihren weiteren Werdegang beeinflusst?

Christoph Nübel: Der Preis war in zweierlei Hinsicht wichtig: Erstens diente er, wenn nicht als Eintrittskarte, so aber doch hier und da als Türöffner im militärgeschichtlichen Teil der akademischen Welt. Zweitens vermittelte er mir den Eindruck, wenn auch beruflich vielleicht auf einem aussichtslosen, wissenschaftlich aber zumindest auf einem guten Weg zu sein.

 

Welchen Rat geben Sie Nachwuchshistorikerinnen und –historikern mit auf den Weg, wenn Sie einen Blick auf die Zeit werfen, in der Sie Ihre Abschlussarbeit verfasst haben?

Christoph Nübel: Ich verstehe die Frage so, dass es hier um Hinweise zu Karrierewegen des wissenschaftlichen Nachwuchses geht. Da würde ich es mit der ungeschriebenen britischen Verfassung halten, die den Einfluss der Krone seit dem 19. Jahrhundert auf drei Modi beschränkt: Das Recht, gehört zu werden, zu bestärken und zu warnen. Immer, wenn ich zu den Chancen befragt werde, Wissenschaft als Beruf betreiben zu können, verweise ich auch auf die zahlreichen Zufälle, die den Weg eines jeden Wissenschaftlers geprägt haben. Wenn jemand mit Begeisterung von einem weiterführenden Forschungsthema erzählt, ermutige ich grundsätzlich dazu, es weiter zu verfolgen. Gleichwohl wäre es unfair, dies ohne Hinweis auf die zahlreichen Friktionen zu tun, die das akademische Leben bereithält. Eine hilfreiche – weil desillusionierende – Lektüre ist immer noch Max Webers Vortrag über „Wissenschaft als Beruf“ von 1919.4 Vor diesem Hintergrund ist es sehr schwierig, einen allgemeinen Rat zu geben, denn die Situation für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler war vor mehr als einer Dekade eine ganz andere als heute. Damals bot die Exzellenzinitiative gute Möglichkeiten, eine der begehrten Promotionsstellen zu ergattern. Heute sind es Forschungsverbünde, Projekt- und mehr denn je Drittmittelstellen, die eine Dissertation monetär absichern.

 

Welche Bedeutung hat für Sie persönlich der Wilhelm-Deist-Preis heute?

Christoph Nübel: Ich bin nach wie vor dankbar, dass mir der AKM diesen Preis zuerkannt hat. Heute sehe ich im Wilhelm-Deist-Preis ein Zeichen der Verbundenheit mit dem AKM. Darüber hinaus markiert er für mich die Phase des Übergangs vom Studium zur Promotion, eine Zeit, an die ich gerne zurückdenke.

 

Daniel R. Bonenkamp/Takuma Melber, Interview mit Dr. Christoph Nübel. Teil X der Interviewreihe: 25 Jahre Arbeitskreis Militärgeschichte e.V. (1995–2020), in: Portal Militärgeschichte, 14. Juni 2021, URL: https://www.portalmilitaergeschichte.de/Bonenkamp_Melber_Interview_Nuebel (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).

 

Zur Übersicht über die Interviewreihe "25 Jahre Arbeitskreis Militärgeschichte e.V. (1995-2020)" (Link).

  • 1. Marc Bloch, Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers. Nach der von Etienne Bloch edierten französischen Ausgabe herausgegeben von Peter Schöttler. Vorwort von Jacques Le Goff, 2. Aufl. Stuttgart 2008, S. 30.
  • 2. Von 1983 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2004 hatte Sicken die Professur für Neuere Geschichte und Militärgeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster inne.
  • 3. Christoph Nübel, Die Mobilisierung der Kriegsgesellschaft. Propaganda und Alltag im Ersten Weltkrieg in Münster, Münster 2008.
  • 4. Max Weber, Wissenschaft als Beruf/Politik als Beruf. Jubiläumsausgabe, Stuttgart 2020.