1870/71 und 1914

(Erste) Internationale Tagung des Musée départemental de la guerre 1870
Datum: 
Donnerstag, 27. März 2014 bis Samstag, 29. März 2014
Ort: 
Gravelotte
Deadline: 
Freitag, 21. Juni 2013

In seinem Buch Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers beschreibt Stefan Zweig die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in Österreich-Ungarn als "das goldene Zeitalter der Sicherheit", in dem "niemand an Kriege glaubte". Kriege gehörten scheinbar der Vergangenheit an. Und tatsächlich stellt sich heute, kurz vor dem Gedenkjahr 2014, als Erstes die Frage, welche Vorstellung die Europäer vom Krieg hatten, welchen Sinn sie darin sahen, von welchen Erinnerungen und Kenntnissen sich ihre Furcht angesichts der neuen Sachlage speiste, mit der sie im Sommer 1914 konfrontiert waren.

Was Frankreich betrifft, würde niemand mehr behaupten wollen, dass der Krieg als Revanche geplant und gewollt war, die man seit 43 Jahren erwartete. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 völlig in Vergessenheit geraten war. Es ist allgemein bekannt, dass seit der Tanger-Krise von 1905 und insbesondere der Agadir-Krise von 1911 mit dem Aufflammen des Nationalismus das Problem der "verlorenen Provinzen" wieder an Aktualität gewonnen hatte. Weniger bekannt ist, welche Art von Verbindung die Zeitgenossen spontan oder unter dem Eindruck der Propaganda zwischen dem neuen und dem vorangegangenen Krieg herstellten. Man darf davon ausgehen, dass die kollektive, aber zum Teil verblasste und zusammengestückelte Erinnerung an 1870/71 in den Regionen, die unmittelbar vom Krieg betroffen waren, zumal in den bis 1873 besetzten Gebieten, eine andere Ausprägung hatte als in der Südhälfte des Landes. Diese Unterschiede, die durchaus auch Vorurteile gegenüber dem Süden nährten, wurden allerdings mit verschiedenen Mitteln eingeebnet: Gedenkveranstaltungen, Zeugnisse von Veteranen, vereinheitlichte Lehrpläne usw. - aber wie weit ging das?

Ähnliche Fragen stellen sich auch auf deutscher Seite. Der von John Horne und Alan Kramer in ihrer Studie Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit erbrachte Nachweis, dass die Erinnerung an den vermeintlichen "Franktireurskrieg" von 1870/71 in den "deutschen Kriegsgreueln" von 1914 fortwirkte, lädt dazu ein, sich zu fragen, was von dem siegreichen, die deutsche Einheit begründenden und am Sedanstag gefeierten Krieg in der Gesellschaft als Ganzes (und nicht nur in der Armee) übrig geblieben war. Genauso wie in der Republik Frankreich zwischen den Regionen gab es auch im Deutschen Reich fühlbare Unterschiede zwischen den Ländern.

Darüber hinausgehend wäre auch ein Vergleich des Prozesses der Internationalisierung des Konflikts auf beiden Seiten wünschenswert. Ein besonderes Augenmerk sollte hier auf die angrenzenden Länder Belgien, Luxemburg und die Schweiz gerichtet werden, und darauf, in welcher Art und Weise diese Länder, wenngleich natürlich in unterschiedlichem Maße, durch die beiden Kriege betroffen waren. Wie weit konnten die Menschen in den beiden am meisten von der Westfront betroffenen Ländern aufgrund ihres alltäglichen Erlebens abschätzen, dass der Krieg 1914 nicht nur ein neuer deutsch-französischer Konflikt, sondern ein Weltkrieg war? Und umgekehrt, in welchem Maße begriffen die Menschen, die den Krieg von 1870/71 miterlebt hatten - wenn der Krieg 1914 von vornherein als ein europäischer Krieg wahrgenommen wurde -, dass der Erste Weltkrieg sich zu einem internationalen Konflikt auswachsen könnte, als er sich in die Länge zu ziehen begann? Die Entscheidung für die Neutralität seitens dieser Staaten, von denen Frankreich sich Unterstützung erhofft hatte, fällt in den Rahmen von Betrachtungen über die europäische Geschichte, die es anhand des in Frankreich mit der 200-Jahr-Feier der Französische Revolution geschaffenen und für die Organisation der 100-Jahr-Feier zum Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs zugrunde gelegten Referenzmodells zu überprüfen gilt.

Diese Fragen auf der ersten wissenschaftlichen Tagung des Museums in Gravelotte zu stellen, das sich ausschließlich dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und der Abtretung des Elsass und von Teilen Lothringens widmet, erscheint nur allzu legitim. Als künftig einzige Kulturinstitution mit nationaler Bedeutung, die den Krieg von 1870/71 thematisiert, möchte das Museum in Gravelotte ab dem Moment seines Bestehens zeigen, dass zu seinem Betätigungsfeld auch hochkarätige wissenschaftliche Veranstaltungen gehören. In diesem Sinne ist das geplante Kolloquium das Ergebnis einer Partnerschaft zwischen dem Wissenschaftlichen Rat des Museums in Gravelotte und einer kürzlich von den Universitäten Sciences Po Paris und Albert-Ludwigs-Universität Freiburg gegründeten internationalen Forschungsgruppe, die sich mit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und seinen Folgen befasst.

Die Themenvorschläge können entweder die "Makro-Ebene" betreffen - zum Beispiel: Wie wirkte sich der Krieg von 1870/71 auf die Überlegungen und Debatten zum internationalen Recht oder die Gepflogenheiten auf dem diplomatischem Parkett aus? - oder die "Mikro-Ebene", so insbesondere im Hinblick auf die Reaktivierung alter Besatzungspraktiken oder Widerstandsformen. Der Fall der im November 1912 irrtümlicherweise ausgerufenen Mobilisierung im Kanton Arracourt (Meurthe-et-Moselle) ist bekannt, aber wie die Resonanz darauf war, bleibt noch zu vertiefen.

Als Themen wären zum Beispiel denkbar: der Stellenwert des Krieges von 1870/71 in der Rekrutenausbildung und insbesondere in der Ausbildung für Leitungspositionen sowie bei der Formulierung der strategischen und taktischen Doktrinen in Frankreich und Deutschland, aber auch in anderen Ländern; Formen des Kampfes und der Gewalt im Krieg 1870/71 und in den ersten Feldzügen des Ersten Weltkriegs; die Gedenkkultur, insbesondere die Gedenkstätten und -feierlichkeiten, die im Ersten Weltkrieg noch eine Rolle spielen; das Wiederaufleben von Motiven und Symbolen aus dem Krieg 1870/71 in den nationalistisch gesinnten Bilderbogen während des Ersten Weltkriegs; das Bedienen des Repertoires der vermeintlichen Lehren des vorangegangenen Krieges durch verschiedene gesellschaftliche und politische Akteure, um sich davon zu überzeugen, dass der Erste Weltkrieg kurz sein würde.

Die Papers sollten ein bis zwei Seiten lang sein und Folgendes beinhalten: Vor- und Nachname des Autors, Angaben zur Institution, Titel des Beitrags, zusammenfassende Darstellung des Themas und Hinweise auf die zugrunde gelegten Quellen.

Die Prüfung der Themenvorschläge erfolgt durch das Wissenschaftliche Komitee des Kolloquiums. Die Autoren erhalten eine Antwort binnen eines Monats nach Einreichung ihrer Vorschläge.

Wissenschaftliches Komitee des Kolloquiums: Jean-François Chanet, Christopher Clark, François Cochet, Olivier Dard, Étienne François, Christine Krüger, Jörn Leonhard und Jakob Vogel.

Papers bitte senden an: Eric Necker ( eric.necker@cg57.fr )

------------------------------------------------------------------------

Kontakt:

Eric Necker

Département de la Moselle

DCT/DAC;

1rue du pont Moreau

B.P. 11096

57096 Metz cedex 1

Frankreich

Tel.: +33-3 87 65 86 54

eric.necker@cg57.fr