Der Wiener Kongress 1814/15. Politische Kultur und internationale Politik
Der Wiener Kongress gilt als eines der wichtigsten historischen Ereignisse im Übergang vom Ancien Régime zur modernen europäischen Staatenwelt. Die im Zeitraum von wenigen Monaten in Wien vereinbarte politische und territoriale Neuordnung Europas stellte zum einen die Grundlage einer neuen internationalen Friedensordnung dar, die für ein halbes Jahrhundert Bestand hatte. Die in Wien versammelten Staatsmänner entwickelten zum anderen aber auch eine zukunftsweisende Form von politischer Kultur. Nach den Erfahrungen eines über zwei Jahrzehnte dauernden "Weltkriegs" und dem Zerfall der alteuropäischen Rechtsordnung schien die Ausarbeitung und Implementierung von völkerrechtlich verbindlichen Normen und Vereinbarungen, die nach innen und außen Frieden garantieren sollten, ein dringendes Gebot der Stunde. Internationale Konflikte sollten fortan auf dem Verhandlungswege unter Vermeidung weiterer Kriege gelöst werden.
Der Kongress war jedoch auch ein politisches und gesellschaftliches Kommunikationsereignis ersten Ranges, galt es doch, zwischen den Vertretern von mehr als 200 europäischen Staaten und Herrschaften Verhandlungen sowie den alltäglichen und gesellschaftlichen Ablauf in der Stadt mit über 10.000 Gästen zu organisieren.
Der Projektverbund "Wiener Kongress" (vgl. www.wiener-kongress.at) plant im Jubiläumsjahr 2015 eine internationale wissenschaftliche Tagung. Sie soll die wichtigsten nach wie vor offenen Forschungsfragen zum Jahrhundertereignis "Wiener Kongress" behandeln.
Zu den im Folgenden beschriebenen sieben Sektionen erbitten wir Vorschläge (max. 600 Wörter) sowie einen kurzen Lebenslauf in den Konferenzsprachen Deutsch oder Englisch bis zum 30. April 2013 an Karin Schneider (karin.schneider@uibk.ac.at) oder Eva Werner (eva.werner@uibk.ac.at).
1. Netzwerke und Akteure
Der gesellschaftspolitische Hintergrund der Wiener Verhandlungen, die politischen und sozialen Netzwerke, die das Handeln der Akteure mit beeinflussten, wurden bisher in der Forschung wenig beachtet. Gesellige Veranstaltungen, regelmäßige Treffen im privaten Umfeld oder räumliche Nähe durch die Lage der Quartiere förderten und lenkten die Kommunikation zwischen den Akteuren. Die geplante Sektion richtet daher den Fokus auf folgende Fragen:
- Kommunikationskreise der diplomatischen Delegationen
- Verhandlungsstrategien der diplomatischen Akteure
- Kommunikationsstrategien von Interessensvertretern
- Orte und Räume politischer Kommunikation
- Gesellschaftliche Ereignisse und politische Kommunikation
2. Im Spannungsfeld zwischen Öffentlichkeit und Geheimdiplomatie
Die Entscheidungen auf dem Wiener Kongress fielen scheinbar allein im kleinem Kreis der Mächtigen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Dennoch spielte jene bereits eine gewichtige Rolle bei vielen Fragen. Dies herauszuarbeiten ist das Hauptanliegen der Sektion. Wie wurden etwa die Wiener Bevölkerung und die zahlreichen Gäste in das Geschehen in Wien einbezogen? Welche Position nahmen die Medien bei der Entscheidungsfindung wie bei der Vermittlung dieser Entscheidungen in den verschiedenen beteiligten Staaten ein? Auch ein Vergleich mit der Verhandlungsweise und der Kommunikation derselben bei anderen Kongressen wäre denkbar.
3. Völkerrecht und zwischenstaatliche Übereinkommen
Die epochemachende Bedeutung des Wiener Kongresses für die Entwicklung des Völkerrechts zeigt sich in der Langlebigkeit der dort gefassten Beschlüsse. Einzelne Vereinbarungen, wie die Deklaration über die Abschaffung des Sklavenhandels, die Reglements über die freie Schifffahrt oder über den Rang zwischen diplomatischen Vertretern, haben bis heute ihre Geltung bewahrt. Aber auch das allgemeine Konzept einer umfassenden Friedensordnung für ganz Europa war in dieser Form neuartig und beispielgebend; die Konstruktion des Deutschen Bundes, in dem Großmächte und Kleinstaaten zusammengeschlossen waren, ist auch für die Gestaltung von internationalen und supranationalen Organisationen des 21. Jahrhunderts von erheblichem Interesse. Die Beiträge innerhalb der Sektion sollen diesen und weiteren völkerrechtlichen Fragen, die sich aus Anlass des zweihundertsten Jahrestages stellen, nachgehen.
4. Das europäische Staatensystem und sein Regelwerk
Das im Zuge des Wiener Kongresses etablierte europäische Friedens- und Sicherheitssystem stand in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder im Zentrum kontrovers geführter Debatten, die wertvolle Erkenntnisse über die Mechanismen europäischer Mächtepolitik beigetragen haben. Um zu einem besseren Verständnis der strukturgeschichtlichen Prozesse zu gelangen, erscheint es notwendig, die Grenzen klassischer Politikgeschichte zu überschreiten und neue inhaltliche Akzentuierungen vorzunehmen. In der Praxis bedeutet dies, den Blick nicht nur auf die Entstehung und das Wirken der sog. "Wiener Ordnung" in Europa zu lenken, sondern auch plurale politische Ordnungsräume jenseits des Kontinents in den Fokus zu nehmen. Von dieser Prämisse ausgehend sind unter anderem folgende Aspekte von besonderem Interesse: - Entstehung und Wirken "konzertierter" Politik: Regeln und Konfliktmanagement (Bündnisse, multilaterale Verträge, Konsultationsmechanismen etc.) - Konkretes politisch-militärisches Instrumentarium (territoriale "Barrieren", Militärrouten, Festungsbauten etc.) - Ausformung einer europäischen Zivilgesellschaft und einer "international society" - Die Interventionsdebatte und ihre realpolitischen Auswirkungen - Europa und die Konfliktschauplätze in Übersee - Die Wiener Friedensordnung als Voraussetzung für die Dynamik der europäischen Expansion und der britischen Dominanz im 19. Jh. (z.B. das Mittelmeer als britisch dominierter Ordnungsraum)
5. Staatsfinanzen und Politik
Der drohende Staatsbankrott Frankreichs hat maßgeblich zum Ausbruch der Revolution 1789 und in der Folge zu den langjährigen bewaffneten Konflikten zwischen den verschiedenen Regimes in Paris und einem Großteil der damaligen europäischen Staatenwelt geführt. Nach fast einem Vierteljahrhundert des Krieges standen viele europäische Staaten vor schwerwiegenden, wenn nicht gar existenziellen Finanzproblemen. Demzufolge hatten die staatlichen Akteure 1814/15 immanentes Interesse daran, die mit der Verschuldung verbundenen Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen. In der Forschung wurde das Finanzproblem, trotz aktueller Bezüge, bisher kaum thematisiert. Mögliche Fragen, welche in dieser Sektion behandelt werden sollen, sind die Rolle von Reparationszahlungen und der finanziellen Wiedergutmachung, die Regelung der Rückzahlung der zahlreichen Kriegsdarlehen, die auf den internationalen Kapitalmärkten aufgenommen wurden, die Präsenz von Repräsentanten der internationalen Banken- und Kapitalwelt im Umkreis von Zusammenkünften von Staatsvertretern, aber auch die Verfassungsfrage in Hinblick auf das Problem der Finanzkontrolle und Rechtssicherheit. Nicht zuletzt stellt sich die Frage nach der Auswirkung der finanziellen Erschöpfung auf die internationale Politik in den Jahren nach dem Wiener Kongress.
6. Kunst, Musik und Kultur.
Der Wiener Kongress fungierte als Plattform für kulturelle Produktion aller Art. Dies betrifft einerseits traditionelle Bildmedien wie Medaillen und Ölgemälde, andererseits fungierte aber auch die Druckgrafik als flexibel einsetzbarer Reflektor der Ereignisse. Dazu kommen am Ende des 19. Jahrhunderts Belletristik und Operette, meist in Zusammenhang mit der Schaffung eines künstlichen "Alt-Wien"-Bildes entstanden, die bis heute das Bild des Wiener Kongresses als eines permanenten Festes geprägt haben. In der geplanten Sektion sollen vor allem folgende Fragestellungen diskutiert werden:
- Welche Rolle spielten die Künste im Dienst der Politik und Repräsentation?
- In welcher Weise sind aufgrund der Anwesenheit zahlreicher internationaler Künstler kulturelle Transferleistungen zur Zeit des Kongresses feststellbar?
7. Der Wiener Kongress in der Erinnerungskultur
Nach Jahren der Negativbewertung wird der Wiener Kongress heute in überwiegend positivem Lichte gesehen: als ein Zusammentreffen, bei dem es trotz massiver Interessenkonflikte gelang, eine Friedensordnung von vergleichsweise langer Dauer zu schaffen. Der breiten Öffentlichkeit ist der Wiener Kongress allerdings in erster Linie als ausschweifende Festlichkeit im Gedächtnis. Dazu trugen nicht nur die zahlreichen veröffentlichten Tagebücher und Memoiren, sondern beispielsweise auch die Operette "Wiener Blut" (1899) und mehrere Spielfilme bei. Eng mit dem Bild vom Wiener Kongress verbunden ist in der allgemeinen Erinnerung zudem die Figur des Fürsten Metternich, dessen einseitiges Image als reaktionärer Unterdrücker von Freiheit und nationaler Einheit weit verbreitet ist und erst von der neuesten Forschung verstärkt in Frage gestellt wird. Bei diesen Bildern und Deutungen des Kongresses will die Sektion ansetzen. Sie blickt damit nicht auf den Wiener Kongress selbst, sondern auf die Erinnerungskulturen zu diesem Großereignis, deren systematische Erforschung noch aussteht. Verschiedene Medien der Erinnerung, wie die Historiografie, Memorialliteratur, Bildmedien, Zeitungen, Schulbücher, Ausstellungen oder Spielfilme können hierfür analysiert werden. Dabei soll den verschiedenen nationalen Hintergründen Rechnung getragen werden.
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Kontakt:
Mag. Dr. Karin Schneider, MAS
Projektmitarbeiterin: Der Wiener Kongress und sein europäisches Friedenssystem 1814/15-1825
Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie an der Universität Innsbruck
Tel.: +43 512 507-4384
E-Mail: karin.schneider@uibk.ac.at
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Dr. Eva Maria Werner
Projektmitarbeiterin: "Der Wiener Kongress und die politische Presse - Zeitungen als Medien politischer Kommunikation"
Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie an der Universität Innsbruck
Tel.: +43 512 507-4384
E-Mail: eva.werner@uibk.ac.at