Gewalträume einer Grenzregion, Lothringen 1870-1962
Das Interesse der Geistes- und Sozialwissenschaften am Thema Gewalt ist ungebrochen. Dies war insbesondere während des vergangenen Gedenkjahres an den Ersten Weltkrieg unübersehbar. In diesem besonderen Kontext haben viele Debatten über historische Ursachen, Formen und Folgen von Gewalt erneut die großen Herausforderungen deutlich gemacht, mit denen die Geschichtswissenschaft angesichts dieser Thematik konfrontiert ist.
Diesbezüglich haben sich für die Gewaltforschung die Arbeiten des Soziologen Trutz von Trotha (1946-2013) als besonders innovativ erwiesen. In dessen Nachfolge interessiert sich eine wachsende Zahl von Historikern für einen phänomenologischen Zugriff und damit für eine dichte Beschreibung (Clifford Geertz) physischer Gewalt. Damit einher geht unter anderem die Forderung, Gewalt nicht à priori als Devianz oder Ausnahmefall einer bestimmten Ordnung zu verstehen, sondern als fundamentalen und strukturierenden Bestandteil derselben. Die Kategorie des Raumes spielt in diesen Forschungen eine zunehmend wichtige Rolle.
Die Tagung am Centre Marc Bloch greift diese Impulse der jüngeren Gewaltforschung auf. Sie richtet den Fokus auf Lothringen, eine Region, die während des 19. und des 20. Jahrhunderts zum Schauplatz zahlreicher gewalttätiger Auseinandersetzungen wurde. Das Spektrum der Beiträge reicht vom Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 über die beiden Weltkriege bis hin zu Wechselwirkungen und Dimensionen kolonialer Gewalt, die sich bis 1962 durch verschiedene Bezüge zwischen Lothringen und Algerien ergaben. Der besondere Gewinn der regionalen Perspektive besteht darin, dass prägende oder gar strukturierende Effekte von Gewalt am Beispiel Lothringens anhand zahlreicher Beispiele vergleichend und auf etwaige Langzeitwirkungen hin untersucht werden. Man denke allein an die mehrfachen gewaltvoll herbeigeführten Wechsel der nationalen Zugehörigkeit Lothringens oder die (z.T. daraus resultierenden) inhaltlichen Schwankungen gewaltanleitender Begriffe wie Verräter, Rebell, Terrorist etc.
Die lothringische Geschichte stellt für Untersuchungen von Gewalterfahrungen somit ein reiches Feld dar, dem sich die Teilnehmer der Konferenz über den Begriff des Gewaltraums annähern werden. In Anlehnung an Jörg Baberowski und Felix Schnell wird darunter ein zeitlich begrenzter sozialer Raum verstanden in dem die Ausübung bzw. Androhung von Gewalt eine bevorzugte Handlungsressource darstellt. Ein zentrales Ziel der Konferenz ist, derartige soziale Konstellationen, die in Lothringen zwischen 1870 und 1962 entstanden, im Hinblick auf Kontinuitäten, Brüche und konstituierende Effekte zu diskutieren.
Die Konferenzsprachen sind Deutsch, Französisch und Englisch.
Gäste sind nach Anmeldung willkommen
Veranstaltungsort: Centre Marc Bloch, Friedrichstraße 191, 10117 Berlin
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Programm:
5. März 2015
09.00 Begrüßung und Einführung - Teresa Koloma Beck (Centre Marc Bloch): "Gewalträume" - ein Konzept für die sozialwissenschaftliche Gewaltforschung?
09.30 Sektion I - Gewaltvorstellungen und -praktiken in Lothringen 1870-1914
Moderation: Dominik Rigoll (Friedrich-Schiller-Universität Jena)
Karine Varley (University of Strathclyde): War commemoration and the legitimization of violence - Remembering the Franco-Prussian War in Lorraine
Pierre-Louis Buzzi (Université de Strasbourg): Violences sur les immigrés italiens dans l'espace lorrain (1870-1914)
Andrei Bodrov (Saint Petersburg State University): Refugees or hostages? Alsatians and Lorrainians in French vision of future war with Germany in late 1880s
Kommentar: Jakob Vogel (Science Po Paris)
Diskussion
12.30 Mittagspause
14h00 Sektion II - Gewalt als Befreiung? Lothringen und der Große Krieg
Moderation: N.N.
Gérald Sawicki (Université de Lorraine): Les villes et villages martyrs de Lorraine pendant la Première Guerre mondiale
Chantal Metzger (Université de Lorraine): L'image de l'ennemi en Lorraine aux lendemains des deux Guerres mondiales
Kommentar: Malte König (Goethe Universität Frankfurt am Main)
Diskussion
16.00 Kaffeepause
16.15 Sektion III - Besatzung und regionales Trauma - Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs in Lothringen
Moderation: Emmanuel Droit (Centre Marc Bloch)
Elisabeth Hoffmann (Université du Luxembourg | Université de Strasbourg): La Résistance en Lorraine sous l'occupation nazie. Expériences et discours mémoriels
Tanja von Fransecky (Gedenkstätte Deutscher Widerstand): Transitraum, Kulminations- und Wendepunkt - Fluchten jüdischer Waggoninsassen aus Deportationszügen in Lothringen
Nadège Mougel (Université du Luxembourg): Perceptions et expériences de la violence en Lorraine occupée - la politique allemande de terre brûlée appliquée au front est de la France à l'automne 1944
Eva Maria Klos (Université du Luxemburg): "Malgré-nous" in deutscher Uniform (1942-1944) - Eine Gewalterfahrung in Erinnerungskulturen Lothringens
Kommentar: Frank Reichherzer (ZMSBw)
Diskussion
19.30 Ende Tag 1
6. März
09.30 Sektion IV - Dimensionen kolonialer Gewalt in Lothringen 1870 - 1962
Moderation: Anne Kwaschik (Freie Universität Berlin)
Avner Ofrath (University of Oxford): "Assistierte Auswanderung" nach Algerien und die außereuropäischen Übertragungen der Gewalt in Lothringen 1870-1871
Piero-D. Galloro (Université de Lorraine): Le discours colonial en Lorraine. Entre "ratonnades" et violence symbolique. L'exemple des Nord-africains entre 1930 et 1962
Lucas Hardt (Centre Marc Bloch): Arrivée des guerriers d'Algérie en Lorraine. Le 1er R.C.P. et les Algériens à Metz 1961
Kommentar: Raphaëlle Branche (Université de Rouen)
Abschlusskommentar: Daniel Schönpflug (Centre Marc Bloch)
Abschlussdiskussion
13.00 Ende der Tagung
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Kontakt:
Lucas Hardt, M.A.
Centre Marc Bloch
Friedrichstraße 191
D-10117 Berlin