Seit dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und der darauffolgenden militärischen Reaktion Israels in Form von Angriffen und einer Bodenoffensive auf dem Gebiet des Gaza-Streifens kursieren täglich zahlreiche Meldungen und Bilder zum wiederentflammten Krieg im Nahen Osten durch Nachrichtensendungen, Zeitungen und soziale Medien. Von Beginn an polarisierte dieser Konflikt weltweit die Meinungen. Während die internationalen Reaktionen anfangs vor allem von Solidaritäts- und Beistandsbekundungen im Hinblick auf Israel geprägt waren, so ruft der militärische Gegenschlag bis heute immer deutlichere und stärkere Kritik hervor. Im Zentrum dieser Ablehnung stehen dabei in erster Linie die im Zuge der israelischen Angriffe verursachten zivilen Opfer sowie die Schäden und Zerstörungen an Häusern und Wohnungen, Krankenhäusern und anderer wichtiger Infrastruktur. Zuletzt zeigten sich diese kritische Haltung und die häufig damit einhergehenden Forderungen nach einer Mäßigung Israels bezüglich der militärischen Aktivitäten in Gaza in Form einer Klage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag, wegen vermeintlicher Verstöße Israels gegen die UN-Völkermord-Konvention. Aber auch innerhalb Israels wurden in der jüngeren Vergangenheit bereits kritische Stimmen gegen die israelische Regierung laut, zum Beispiel Ende Dezember 2023, nachdem drei der von der Hamas in den Gaza-Streifen verschleppten Geiseln versehentlich von israelischen Soldaten getötet worden waren.
Die Bilder und Berichte aus Gaza vermitteln häufig den Eindruck, die Folgen des Konfliktes seien in erster Linie einem rücksichts- und zügellosen Vorgehen der israelischen Streitkräfte gegen die Hamas und, wie manche behaupten, gegen die palästinensische Bevölkerung1 zuzuschreiben, dies ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr sind zivile Opfer und weitreichende Zerstörung stets zu erwartende Begleiterscheinungen kriegerischer Konfrontationen, die in einem dicht bebauten und von zahlreichen Menschen bewohnten Umfeld wie dem Gaza-Streifen ausgetragen werden. Streitkräfte, die in einem derartigen urbanen Raum operieren, sehen sich mit einer Vielzahl an besonderen Herausforderungen und Problemen konfrontiert. Diese können letztlich nicht nur die militärischen Fähigkeiten und Fertigkeiten einer Streikraft einschränken und ihr Vorgehen behindern, sondern machen es zudem häufig nahezu unmöglich, Angriffe und Operationen mit der nötigen Präzision und Umsicht durchzuführen. Demensprechend beinhalten vor allem urbane Operationen ein gesteigertes Risiko von zivilen Opfern und ungewollten Schäden. Dies ist insbesondere der Fall, wenn ein militärischer Akteur wie die Hamas in der Lage ist, sich die Besonderheiten und besonderen Eigenschaften des urbanen Raumes zu Nutze zu machen und so gezielt gegen seine Gegner vorzugehen.
Militärische Operationen im urbanen Raum bringen von Natur aus umfassende Herausforderungen und tiefgreifende Probleme mit sich. Das Zusammenspiel aus Zivilbevölkerung, Bebauung und Infrastruktur, im militärischen Sprachgebrauch auch als urbane Triade bezeichnet,2 erzeugt einen komplexen, oft unübersichtlichen Einsatzraum, in dem sich konventionelle Streitkräfte in der Regel mit einer Vielzahl an physischen, taktischen, rechtlichen und moralischen Hindernissen und Dilemmata konfrontiert sehen. Nicht selten sind Streitkräfte durch die Besonderheiten und besonderen Gegebenheiten des urbanen Raums in ihren Aktivitäten gehemmt und sind gezwungen auf etablierte Taktiken und den Einsatz bestimmter Waffentypen zu verzichten oder diese zumindest deutlich einzuschränken. Auf Basis der drei Bestandteile der urbanen Triade wird sich der folgende Absatz näher mit den Charakteristika und Herausforderungen des urbanen Einsatzgebietes auseinandersetzen.
Eine im urbanen Raum agierende Streitkraft können die drei Elemente der urbanen Triade, also die Bebauung, die Infrastruktur und die allgegenwärtige Zivilbevölkerung, vor tiefgreifende Probleme stellen, da sie sich zugleich als physische und moralische Hindernisse für ein effektives und präzises militärisches Handeln erweisen. So führen beispielsweise dichte Bebauung und enge Straßen zu einer Behinderung und Einschränkung der Bewegungs- und Manövrierfähigkeit großer Truppenkontingente und vor allem schweren militärischen Geräts. Dies hat wiederum oft zur Folge, dass eine im urbanen Raum agierende Streitkraft in kleinere, getrennt voneinander operierende Fragmente aufgespalten werden muss, etwa weil großen, schwer gepanzerten Fahrzeugen der Zugang zu bestimmten Stadtteilen durch physische Hindernisse verwehrt bleibt. Eine derartige Fragmentierung steigert die Verwundbarkeit aller beteiligten Einheiten deutlich, da sowohl Infanterie als auch Fahrzeuge im komplexen urbanen Umfeld auf gegenseitige Absicherung angewiesen sind.
Hinzu kommt außerdem, dass sich dichte Bebauung und enge Straßenschluchten nachteilig auf das Lagebewusstsein militärischer Einheiten auswirken können, da Sicht und Übersicht über eine Situation von derartigen optischen Hindernissen gestört werden. Selbst modernste optische Hilfsmittel und Aufklärungsmethoden stoßen angesichts der im urbanen Raum konzentrierten, teils massiven Gebäudestrukturen schnell an ihre Grenzen. Vor allem die Effektivität visueller Aufklärungsmittel wird häufig von bestimmten Baumaterialien wie Beton oder Stahlbeton gestört, wodurch den Soldaten ein Blick in die Gebäude und Räume einer Stadt nicht selten verwehrt bleibt. Moderne Streitkräfte wie die Israeli Defence Forces (IDF) setzen deshalb immer mehr auf den Einsatz sogenannter Mikrodrohnen, die gezielt in Häuser und Räume gesteuert werden können.3 Auch die Kommunikation zwischen einzelnen Soldaten und Einheiten oder von Truppen vor Ort mit höheren Kommandostrukturen kann von den physischen Gegebenheiten eines bebauten Geländes stark beeinträchtigt werden, was wiederum zu einer Verstärkung der ohnehin vorherrschenden Unübersichtlichkeit beiträgt. Nicht selten kommt es in urbanen Einsätzen deshalb zu Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen, mit teilweise verheerenden Folgen für die beteiligten Truppen und alle Personen im Einsatzgebiet.
Neben diesen hinderlichen Auswirkungen des urbanen Raumes auf Bewegung, Sicht und Kommunikation einer Streitkraft, können die Charakteristika dieses besonderen Einsatzgebietes zudem negative Implikationen für die Anwendung und Wirkung bestimmter Waffensysteme und Munitionsarten haben. So beeinflusst das urbane Umfeld nachhaltig den Einsatz von Unterstützungsfeuer, welches meist in Form von Luftangriffen oder Artillerieschlägen durchgeführt wird. In ihrer Grundkonzeption sind derartige Angriffe darauf ausgelegt, gegnerische Positionen und Verteidigungsstellungen aus sicherer Distanz, mithilfe präziser Munitionen zu bekämpfen, um so das Risiko zu minimieren, das die eigenen Soldaten bei der Bekämpfung von befestigten Stellungen eingehen müssten. Aufgrund der Unübersichtlichkeit des urbanen Einsatzgebietes und nicht zuletzt wegen der bereits erläuterten Behinderungen für Sicht und Verständigung kann die Fähigkeit einer Streitkraft, einzelne Ziele für derartige Angriffe zu identifizieren und anzuvisieren, jedoch deutlich beeinträchtigt sein. Hinzu kommt, dass die betroffenen Einheiten im Chaos und Stress des urbanen Kampfes leicht den Überblick darüber verlieren, welche eigenen Truppenteile oder möglicherweise Zivilisten sich in einem Zielgebiet aufhalten. Dies führt letztlich dazu, dass Unterstützungsfeuer im urbanen Raum stets mit einem gesteigerten Risiko einhergeht, ungewollte zivile Opfer oder Verluste in den eigenen Reihen zu verursachen.
Das urbane Terrain kann zudem die Wirkung explosiver Munitionstypen auf unvorhersehbare Art und Weise beeinträchtigen und verändern. So neigen enge Straßenzüge und verwinkelte Gassen dazu, Explosions- und Druckwellen hochexplosiver Wirkmittel zu kanalisieren und den Effekt eines Angriffes somit deutlich auszuweiten und zu steigern. Dies ist umso mehr der Fall, als herbeigeführte Druckwellen Schutt und kleine Gegenstände aus dem Umfeld aufnehmen können, um diese als tödliche Schrapnells über einen großen Radius zu verteilen.4 Selbst mit höchster Genauigkeit geplante und durchgeführte Angriffe unter Verwendung von Präzisionsmunition haben im bebauten Gebiet so das Potenzial, zu einer Gefahr für jeden im Zielgebiet zu werden, nicht nur für diejenigen, gegen die der Angriff gerichtet ist.
Abgesehen von derartigen technischen und praktischen Einschränkungen können sich Streitkräfte in urbanen Operationen auch aufgrund moralischer und rechtlicher Bedenken gezwungen sehen, auf den Einsatz bestimmter Mittel und Methoden zu verzichten. Dies ist in der Regel der Fall, wenn ein solcher Einsatz ein gesteigertes Risiko birgt, eine unverhältnismäßige Zahl an Opfern oder weitreichende Zerstörung zu verursachen. So sind Streitkräfte gemäß dem Kriegsvölkerrecht verpflichtet, auf einen Angriff oder die Verwendung bestimmter Mittel zu verzichten, wenn die zu erwartenden Schäden und Opfer unverhältnismäßig sind und den vorgesehenen militärischen Nutzen eines solchen Angriffes übersteigen.5 Vor allem in einem dicht bebauten Gebiet mit omnipräsenter Zivilbevölkerung kann der Einsatz bestimmter Wirkmittel und Waffentypen somit stark eingeschränkt oder gar gänzlich untersagt sein. Im Zweifelsfall kann dies bedeuten, dass eine Streitkraft größere Risiken für das Leben der eigenen Soldaten in Kauf nehmen muss, um unverhältnismäßige Kollateralschäden und zivile Opfer zu vermeiden. Nicht zuletzt aus diesem Grund gehen urbane militärische Operationen nicht selten mit hohen Verlusten innerhalb der daran beteiligten Truppen einher.
Derartige Behinderungen und Herausforderungen, die üblicherweise mit militärischen Operationen im urbanen Raum verbunden sind, stellen eine in diesem Einsatzgebiet agierende Streitkraft vor weitreichende Probleme. Sieht sich eine Streitkraft noch dazu einem Gegner gegenüber, der sich nicht nur dieser Schwierigkeiten und Beeinträchtigungen bewusst ist, sondern noch dazu in der Lage ist, diese durch geschicktes und gezieltes Vorgehen zu seinem Vorteil auszunutzen, verwandeln sich derartige Probleme schnell in nahezu unlösbare Dilemmata. Vor allem irreguläre Akteure waren so in jüngerer Vergangenheit wiederholt in der Lage, ihre vermeintliche Unterlegenheit gegenüber staatlichen Streitkräften durch die Verwendung bestimmter Taktiken und unter geschickter Ausnutzung des urbanen Terrains bis zu einem gewissen Grad zu relativieren.6 Dabei profitieren diese Akteure nicht selten von einer besseren Ortskenntnis, die es ihnen ermöglicht, sich unbeschwert und größtenteils unentdeckt durch ein urbanes Gebiet zu bewegen und Kampfstellungen sowie Hinterhalte an den am besten geeigneten Stellen zu errichten. Hinzu kommt, dass derartige Akteure nicht selten enge Beziehungen zur vor Ort lebenden Bevölkerung pflegen oder diese zu einer Zusammenarbeit zwingen, was ihnen im Fall eines Kampfes zusätzliche Unterstützung und Hilfe in verschiedenster Form einbringen kann. Nicht selten finden oder erzwingen sich Kämpfer so Zuflucht in privaten Häusern und Wohnungen oder werden von eigentlich am Kampf nicht beteiligten Zivilisten mit Munition, Nahrung und Medizin versorgt. In besonderen Fällen können vor allem Frauen und Kinder als unauffällige Späher eingesetzt werden, da diese meist in der Lage sind, die Truppenstärke und Bewegungen eines Gegners unbemerkt aufzuklären und diese Informationen ungehindert an die von ihnen unterstützte Partei weiterzugeben.
Unkonventionelle Akteure können also davon profitieren, wenn sie sich nicht von rechtlichen oder moralischen Bedenken in ihren Aktivitäten gehemmt sehen. Dies ermöglicht ihnen beispielsweise, Zivilisten freiwillig oder unter Zwang in ihre Kampfhandlungen mit einzubeziehen, ohne sich der moralischen Frage zu stellen, ob diese Personen durch derartige Methoden einer deutlich größeren Bedrohung ausgesetzt werden. Indem sie sich ohne klare Erkennungsmerkmale wie Uniformen oder Abzeichen unter die Zivilbevölkerung mischen und ihre Kampfstellungen, Waffenlager und Kommandoposten in zivilen Gebäuden errichten, behindern derartige Akteure bewusst die Fähigkeit ihrer Gegner, zwischen Kombattanten, und damit legitimen Zielen, und Nicht-Kombattanten zu unterscheiden, die laut Völkerrecht vor Schaden geschützt werden müssen.7 Ein derartiger Missbrauch der Zivilbevölkerung als menschliche Schutzschilde birgt für unkonventionelle Akteure dabei gleich zweierlei Vorteile. Zum einen besteht eine gute Chance, dem Völkerrecht folgende, staatliche Streitkräfte von Angriffen abzubringen, indem man die in einem solchen Angriff zu erwartenden zivilen Opfer und Sachschäden gezielt in die Höhe treibt. Zum anderen bietet eine derartige Vorgehensweise außerdem die Möglichkeit, zivile Opfer und verursachte Zerstörung für die eigene Außendarstellung zu verwenden und so die öffentliche Meinung vor Ort und international nachhaltig zu beeinflussen, sollte ein Angriff trotz der Anwesenheit von Zivilisten im Zielgebiet durchgeführt werden. Das Agieren inmitten der Zivilbevölkerung, aus religiösen Stätten oder Krankenhäusern heraus, ist aus diesen Gründen vor allem in der jüngeren Vergangenheit zu einer beliebten Taktik militärisch unterlegener Konfliktparteien geworden.8 Eine Stadt mit ihrer nahezu allgegenwärtigen Zivilbevölkerung, ihren zahlreichen Gebetsstätten und kulturellen Wahrzeichen eignet sich dabei ganz besonders für die Anwendung derartiger Methoden.
Die Unübersichtlichkeit und Komplexität des Einsatzgebietes sowie das Chaos und der Stress, die mit Kampfeinsätzen in diesem Gelände einhergehen, begünstigen Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen, führen zur Bekämpfung illegitimer Ziele und erzeugen ungewollte und unvorhersehbare Konsequenzen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn nicht-staatliche Akteure sich den urbanen Raum und seine Gegebenheiten zunutze zu machen wissen und gezielt die Schwachstellen und Probleme einer Armee attackieren. Das Zusammenspiel dieser Faktoren führt letztlich dazu, dass militärische Operationen im urbanen Raum meist mit hohen militärischen Verlusten, zahlreichen zivilen Opfern und weitreichender Zerstörung einhergehen.
Mit Blick auf diese Voraussetzungen und Umstände scheinen viele der Ereignisse und Entwicklungen, die sich in den vergangenen Monaten im Rahmen der israelischen Offensive im Gaza-Streifen abgespielt haben, wenig überraschend. Ab dem Zeitpunkt, als die israelische Regierung die Entscheidung getroffen hatte, mit Luftschlägen auf die Angriffe des 7. Oktober zu reagieren, war es beispielsweise absehbar, dass diese Angriffe auf dicht besiedelte Gebiete eine große Anzahl ziviler Opfer nach sich ziehen würden. Dies war umso mehr der Fall, als Israel im Laufe der Zeit neben Luft- auch zunehmend Artillerieangriffe nutzte. So waren laut Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums bis Anfang November 2023 bereits mehr als 10.000 Menschen den Kämpfen im Gaza-Streifen zum Opfer gefallen9 und das, obwohl die IDF laut eigenen Angaben umfassende Vorkehrungen zum Schutz der Zivilbevölkerung und zur Vermeidung ungewollter ziviler Opfer getroffen hatte. Neben dem vermehrten Einsatz von Präzisionsmunition und dem Versuch, ein bestmögliches Bild der Lage in Zielgebieten unter anderem durch die Auswertung von Satellitenbildern und Telefonscans zu erhalten, umfassten diese Vorkehrungen auch wiederholte Warnungen an die Bevölkerung in Gaza, die mit Anrufen, Textnachrichten, Flyern und Radiomeldungen zum Verlassen bestimmter Gebiete aufgefordert wurde.10
Gerade in militärischen Kreisen sind derartige Warnungen nicht unumstritten, da sie neben der Zivilbevölkerung natürlich immer auch den eigentlichen Gegner vor einem bevorstehenden Angriff warnen, und ihm somit ermöglichen, sich auf diesen vorzubereiten oder das Zielgebiet einfach zu räumen und an anderer Stelle weiterzukämpfen. Möglicherweise greifen die israelischen Streitkräfte nicht zuletzt deshalb vermehrt auf die Taktik des sogenannten „roof-knocking“ oder „am Dach Anklopfens“ zurück, bei dem kleine, oft nicht-explosive Munition auf die Dächer eines Zielgebäudes abgeworfen werden, um die sich darin befindlichen Personen durch das Geräusch des Aufschlages vor einem bevorstehenden, tatsächlichen Angriff zu warnen.11 Diese Methode ermöglicht es, Personen in einem kleineren Gebiet vorzuwarnen, als das beispielsweise beim Verteilen oder Abwerfen von Flyern der Fall ist, und birgt somit eine geringere Wahrscheinlichkeit, dass auch gegnerischen Kämpfern derartige Warnungen in die Hände fallen. Gleichzeitig ist die tatsächliche Effektivität dieser Maßnahme immer davon abhängig, wieviel Zeit man den Zivilisten im Zielgebiet einräumt, das Areal zu evakuieren. Letztlich verhindert auch die Taktik des „roof-knocking“ nicht, dass die Betroffenen in den Angriffen häufig ihren Lebensraum und ihre Lebensgrundlage verlieren.
Die bis zum heutigen Tag in Gaza verursachten Opfer zeigen, dass die Durchführung von Luft- und Artillerieangriffen in einem dicht besiedelten Gebiet trotz aller Vorkehrungen und Vorsicht verheerende Wirkung entfaltet, was zuallererst auf die Beschaffenheit des dichten Umfeldes und die grundlegende Unübersichtlichkeit des urbanen Einsatzgebietes zurückgeführt werden kann. Hinzu kommt, dass Gebäude und Infrastruktur auch durch vorherige Warnungen nicht vor den Schäden und der Zerstörung derartiger Angriffe geschützt werden. Die Bemühungen der IDF, die Folgen ihrer Operationen im Gaza-Streifen zu reduzieren, werden dabei zusätzlich deutlich von der Verhaltensweise der Hamas behindert und gestört.
In dem Bewusstsein, dass exzessive Kollateralschäden und zivile Opfer sich nachteilig auf das internationale Ansehen und die Handlungsoptionen Israels auswirken und die Vermeidung derartiger Begleiterscheinungen umfangreiche Einschränkungen für die Vorgehensweise der israelischen Streitkräfte zur Folge haben, suchen die Kämpfer der Terrororganisation verstärkt die Nähe zur Zivilbevölkerung und zu zivilen Einrichtungen wie Krankenhäusern oder Hilfseinrichtungen. Dies lässt sich nicht zuletzt auch anhand des weitreichenden Tunnelnetzwerkes erkennen, das die Hamas in den vergangenen Jahren unter weiten Teilen des Gaza-Streifens errichtet hat. Ein großer Teil dieser schätzungsweise über 500 Kilometer langen „Gaza Metro“, wie die IDF das unterirdische Wegenetz benannt hat, befindet sich unter den bewohnten und bebauten Gebieten Gazas, zahlreiche Zugänge, Knotenpunkte und Kommandoposten dabei direkt in Wohnhäusern, Krankenhäusern und Gebäuden von Hilfsorganisationen wie dem Hauptsitz des UN-Palästinenserhilfswerks UNRWA.12 Eine derartige Positionierung macht es den israelischen Streitkräften schwer, die unterirdischen Stellungen der Hamas zu attackieren, ohne dabei deutliche, vor allem auch sichtbare Kollateralschäden und zivile Opfer in Kauf zu nehmen. Zudem befinden sich viele dieser Tunnel auf einer beachtlichen Tiefe von teilweise über 100 Metern, wodurch Munitionstypen mit größerer Wirkung vonnöten sind, um tatsächliche Schäden an den unterirdischen Anlagen zu verursachen. Der Einsatz derartiger Munition würde im Umkehrschluss jedoch wiederum ein deutlich gesteigertes Risiko für die Menschen und Strukturen an der Oberfläche mit sich bringen und hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit zusätzliche Opfer zur Folge. Die israelischen Truppen müssen außerdem davon ausgehen, dass die verbleibenden Geiseln in den Händen der Hamas in diesem Tunnelsystem versteckt werden, was ein zusätzliches Hindernis für die Zerstörung des unterirdischen Netzwerks darstellt.
Auch wenn die Tunnel der „Gaza Metro“ der Hamas nicht in erster Linie als tatsächliche Kampf- und Verteidigungsposition dienen, so ist es für einen Erfolg der IDF in Gaza dennoch unabdingbar, dass das Netzwerk in großen Teilen zerstört oder zumindest unzugänglich gemacht wird. Letztlich erlaubt das Wegenetz es den Kämpfern der Terrororganisation nämlich nicht nur, sich vor Angriffen der israelischen Streitkräfte zu verstecken, sondern bietet ihnen zudem die Möglichkeit, sich unbemerkt und ungesehen durch das Kampfgebiet zu bewegen. Da bei der Zerstörung dieser Anlagen jedoch häufig auf den Einsatz von schweren Waffen oder Sprengstoffe verzichtet werden muss, um die Bevölkerung in der Nähe keinen größeren Gefahren auszusetzen, sind die israelischen Soldaten regelmäßig gezwungen, die Tunnel mühsam, unter großem Zeitaufwand und noch größeren Risiken mit Infanterie zu räumen.
Neben dem weitreichenden Tunnelsystem spielen auch bestimmte Gebäude und Einrichtungen an der Oberfläche eine prominente Rolle im aktuellen Konflikt zwischen Israel und der Hamas. Eine besondere Bedeutung für den Verlauf der Ereignisse in Gaza haben die Krankenhäuser der Region. Obwohl medizinische Einrichtungen im Völkerrecht besonderen Schutz genießen und nicht zu militärischen Zwecken missbraucht werden dürfen,13 spielen sie laut Angaben der IDF eine wichtige Rolle im Kampf der Hamas gegen die israelischen Truppen. Auch wenn sich dies letztlich nicht eindeutig belegen lässt, so liegt dennoch die Vermutung nahe, dass auch dieser Taktik die Hoffnung zugrunde liegt, der besondere rechtliche Status von Krankenhäusern würde die israelischen Streitkräfte davon abhalten, Angriffe gegen diese Einrichtungen durchzuführen. Das Agieren der Hamas zeigt auch, dass die Organisation nicht nur bereit ist, zivile Opfer in Kauf zu nehmen, sondern vielmehr aktiv versucht, solche Opfer zu provozieren, um sich diese dann in der Folge öffentlichkeitswirksam zunutze zu machen. Vermeintlich exzessive Angriffe der IDF auf jene Einrichtungen, in denen die Zivilbevölkerung eigentlich auf Zuflucht, medizinische Hilfe und Versorgung hofft, versprechen besonders wirksame Bilder und Berichte und ermöglichen es der Hamas, die Aktivitäten Israels in Gaza immer weiter zu delegitimieren.
Im Gegensatz dazu verweisen die israelischen Streitkräfte stets darauf, dass besonders geschützte Einrichtungen wie Krankenhäuser oder auch Gebetsstätten ihren gesonderten völkerrechtlichen Status verlieren, sobald sie von einer Konfliktpartei zu militärischen Zwecken genutzt werden. Dementsprechend sieht die IDF ihre Angriffe auf derartige Einrichtungen als gerechtfertigt und unvermeidbar an, solange diese von der Hamas für den Kampf gegen die israelischen Truppen missbraucht werden. Zudem betont Israel, dass jedes militärische Vorgehen gegen eine derartige Einrichtung strengsten Prüfverfahren und Vorkehrungen unterliege und Angriffe auf Krankenhäuser nur dann durchgeführt würden, wenn dies für die effektive Bekämpfung der Hamas unverzichtbar sei.14 All dieser Kontrolle zum Trotz wurden seit Beginn der israelischen Operation 20 der 22 im nördlichen Gaza-Streifen befindlichen Krankenhäuser so stark beschädigt, dass sie zeitweise oder gänzlich außer Betrieb genommen werden mussten, was letztlich zu einem Zusammenbruch der medizinischen Versorgung in der Region führte und angesichts der fortwährenden Kämpfe schwere Konsequenzen für die Menschen im Gaza-Streifen zur Folge hat.15
Wenn militärische Konflikte in einem urbanen Umfeld ausgetragen werden, in dem Menschen leben und das von physischen Hindernissen bestimmt wird, sind hohe militärische Verluste, hohe zivile Opferzahlen und weitreichende Zerstörung meist unvermeidbare Begleiterscheinungen. Der urbane Raum, geprägt durch Enge und Unübersichtlichkeit, erschwert das militärische Operieren und behindert Streitkräfte nachhaltig im Versuch, Opfer unter der Zivilbevölkerung und ungewollte Kollateralschäden zu vermeiden. Weiter verschärft wird diese Situation, wenn eine Konfliktpartei wie in diesem Fall die Hamas in der Lage ist, sich die Eigenheiten des urbanen Umfelds, die Dichte und das Chaos zunutze zu machen und wenn diese Akteure gewillt sind, die besonderen Schutzpflichten und Regeln des Völkerrechts nicht nur zu missachten, sondern gezielt zu ihrem Vorteil auszunutzen.
Der aktuelle urbane Konflikt Israels mit der Terrororganisation Hamas, der seit Ende 2023 im dicht besiedelten Gebiet des Gaza-Streifens ausgetragen wird, ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Auch hier zeigt sich, dass militärische Operationen im urbanen Raum unzählige Opfer und weitreichende Schäden zur Folge haben, selbst wenn umfassende Anstrengungen unternommen werden, um derartige Konsequenzen zu minimieren. Letztlich verhindern die besondere Beschaffenheit des Terrains und nicht zuletzt die Taktiken des Gegners, dass die Kosten einer solchen urbanen Konfrontation effektiv reduziert werden können, vor allem wenn gleichzeitig militärische Erfolge erzielt und eigene Verluste minimiert werden sollen.
Wie in urbanen Konflikten üblich, ist es auch in Gaza vor allem die Zivilbevölkerung, die die Konsequenzen dieses Dilemmas zu spüren bekommt, solange Israel seine militärischen Aktivitäten im Gaza-Streifen in der anfänglichen Intensität fortführt. Ein weitreichender oder gar gänzlicher Verzicht auf Luft- und Artillerieangriffe und damit auf die Verwendung hochexplosiver Munitionstypen könnte den Anstieg der Opferzahlen und die räumliche Ausbreitung der Zerstörungen deutlich verlangsamen, würde zugleich aber auch signifikant das Risiko für die israelischen Truppen steigern, die sich dann ohne Unterstützung in chaotischen und gefährlichen Häuserkämpfen wiederfänden. Die hohen israelischen Verluste, die voraussichtlich mit einem derartigen Wechsel in der Operationsführung einhergehen würden, machen einen solchen Umschwung ebenso unwahrscheinlich wie eine zeitnahe Beendigung der militärischen Operation im Gaza-Streifen oder einen Wechsel der Hamas zu völkerrechtskonformen und somit die Zivilbevölkerung schützenden Taktiken und Methoden.
Auch in Zukunft werden immer dann Bilder von getöteten und verletzten Zivilisten, zerstörten Häusern sowie zerbombten Kliniken durch die Medien kursieren, wenn gewaltsame Konflikte in dicht besiedelten Gebieten ausgetragen werden, um somit stets aufs Neue zu verdeutlichen, was es bedeutet, wenn Krieg im urbanen Raum geführt wird.
- 1. Paul Munzinger/Ronen Steinke, Die Hürden sind hoch für ein Genozid-Urteil gegen Israel, in: Süddeutsche Zeitung, 09.01.2024, https://www.sueddeutsche.de/politik/gaza-genozid-israel-palaestinenser-den-haag-suedafrika-1.6330207.
- 2. Der Begriff der urbanen Triade oder „urban triad“ entstammt ursprünglich der Joint Publication 3-06 des US-Militärs, welches sich im Jahr 2013 konkret mit dem Themenkomplex „Joint Urban Operations“ befasste. Der Begriff wurde seitdem wiederholt von Wissenschaftlern und Kommentatoren aufgegriffen. US Joint Chiefs of Staff, Joint Urban Operations. JP 3-06 (2013), https://www.jcs.mil/Portals/36/Documents/Doctrine/pubs/jp3_06.pdf; vgl. außerdem: Andreea Karadeli, Urban Warfare. The War of Today, the War of Tomorrow, in: European Security & Defence, 09.03.2022, https://euro-sd.com/2022/03/articles/exclusive/25295/urban-warfare-the-war-of-today-the-war-of-tomorrow/; Margarita Konaev, The Future of Urban Warfare in the Age of Megacities, in: Focus stratégique 88 (2019), S. 1–54, https://www.ifri.org/sites/default/files/atoms/files/konaev_urban_warfare_megacities_2019.pdf.
- 3. Dov Lieber, Small Drones Are Helping Israel Navigate the Urban Battlefield in Gaza, in: The Wall Street Journal, 29.12.2023, https://www.wsj.com/world/middle-east/small-drones-are-helping-israel-navigate-the-urban-battlefield-in-gaza-293b1de4; Mehul Srivastava/John Rathbone, Military Briefing: ‚Everything you can imagine and worse‘ Awaits Israeli Army in Gaza; in: Financial Times, 12.10.2023, https://www.ft.com/content/55d70ab0-f18f-4de7-a4c9-0e14a717ea2a; Eric Tegler, Small AI-Enabled Drones Could Be First Into Gaza Streets and Buildings, in: Forbes, 27.10. 2023, https://www.forbes.com/sites/erictegler/2023/10/27/small-ai-enabled-drones-could-be-first-into-gaza-streets--buildings.
- 4. Geneva International Centre for Humanitarian Demining (GICHD), Explosive Weapon Effects, http://characterisationexplosiveweapons.org/studies/final-report/?article=article-0.
- 5. Diese Vorgabe beruht dabei auf den Grundprinzipien des humanitären Völkerrechts, insbesondere auf dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit und dem Prinzip der militärischen Notwendigkeit. Bundesministerium der Verteidigung, Humanitäres Völkerrecht in bewaffneten Konflikten. Zentrale Dienstvorschrift A-2141/1 (2018), https://www.bmvg.de/resource/blob/93612/7d6909421eacad4ddc7dcdfdf58d42ca/b-02-02-10-download-handbuch-humanitaeres-voelkerrecht-in-bewaffneten-konflikten-data.pdf.
- 6. Beispiele finden sich dabei unter anderem während der Kämpfe in Mogadishu, Somalia (1993), Grosny, Tschetschenien (1994/5) und Falludscha, Irak (2004), vgl. unter anderem: Marshal Ecklund, Task Force Ranger vs. Urban Somali Guerrillas in Mogadishu. An Analysis of Guerrilla and Counterguerrilla Tactics and Techniques used during Operation GOTHIC SERPENT, in: Small Wars & Insurgencies 15/3 (2004), S. 47–69, DOI: 10.1080/0959231042000275560; Timothy L. Thomas, The Battle of Grozny. Deadly Classroom for Urban Combat, in: Parameters 29/2 (1999); S. 87–102, DOI: 10.55540/0031-1723.1935; John Spencer/Jayson Geroux, Case Study #6 – Fallujah I. Urban Warfare Project Case Study Series (28.10.2022), https://mwi.westpoint.edu/urban-warfare-case-study-6-first-battle-of-fallujah/.
- 7. Beruht unter anderem auf dem Zusatzprotokoll I zu den Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I) vom 08.06.1977, Art. 51 Abs. 1, vgl. Bundesministerium der Verteidigung, Humanitäres Völkerrecht in bewaffneten Konflikten, S. 67.
- 8. Beispiele hierfür finden sich unter anderem während der Schlacht um Fallujah (2004) und während der Kämpfe gegen den sogenannten IS in Städten wie Mosul, Irak und Raqqa, Syrien. UN Assistance Mission for Iraq (UNAMI), Report on the Protection of Civilians in the Context of the Ninewa Operations and the Retaking of Mosul City, 17 October 2016 – 10 July 2017, https://www.refworld.org/reference/countryrep/unami/2017/en/119127; Amnesty International, „War of Annihilation“. Devastating Toll on Civilians, Raqqa - Syria (2018), https://www.amnesty.org.uk/files/reports/War%20of%20annihiliation%20report.pdf.
- 9. Ulrich von Schwerin, Mehr zivile Opfer in Gaza als in der Schlacht um Rakka – Kritiker zweifeln an Verhältnismässigkeit von Israels Vorgehen, in: Neue Zürcher Zeitung, 04.12.2023, https://www.nzz.ch/international/israel-die-hohen-opferzahlen-in-gaza-sorgen-fuer-kritik-ld.1767928.
- 10. John Spencer, Israel Implemented More Measures to Prevent Civilian Casualties Than Any Other Nation in History, in: Newsweek, 31.01.2024, https://www.newsweek.com/israel-implemented-more-measures-prevent-civilian-casualties-any-other-nation-history-opinion-1865613.
- 11. Michael Schmitt, Israel – Hamas 2023 Symposium – The IDF, Hamas, and the Duty to Warn (27.10.2023), https://lieber.westpoint.edu/idf-hamas-duty-to-warn/; Yaakov Katz, How the IDF Invented ‚Roof Knocking‘, the Tactic That Saves Lives in Gaza; in: The Jerusalem Post, 25.03.2021, https://www.jpost.com/arab-israeli-conflict/the-story-of-idfs-innovative-tactic-to-avoid-civilian-casualties-in-gaza-663170.
- 12. „Militärgeheimdienst der Hamas“. Israel meldet Tunnel-Fund unter UNRWA-Hauptsitz, in: ntv, 10.02.2024, https://www.n-tv.de/politik/Israel-meldet-Tunnel-Fund-unter-UNRWA-Hauptsitz-article24727432.html.
- 13. „Sanitätseinrichtungen und Truppenteile des Sanitätsdienstes dürfen nicht zu Handlungen verwendet werden, die den Gegner schädigen.“ und „Ortsfeste Sanitätseinrichtungen […] dürfen unter keinen Umständen bekämpft werden.“ Bundesministerium der Verteidigung, Humanitäres Völkerrecht in bewaffneten Konflikten, S. 84 f.; Die Grundlage hierfür bieten unter anderem das erste Genfer Abkommen vom 12.08.1949 zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Streitkräfte im Felde, Art. 19 Abs. 1 und Art. 21, sowie das erste Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12.08.1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I) vom 08.06.1977, Art. 12 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1.
- 14. Katie Polglase u. a., How Gaza’s Hospitals Became Battlegrounds. CNN Special Report, in: CNN, 12.01.2024, https://edition.cnn.com/interactive/2024/01/middleeast/gaza-hospitals-destruction-investigation-intl-cmd/.
- 15. Polglase u. a., How Gaza’s Hospitals Became Battlegrounds.