Militärgeschichtliches Forschungsamt, 01.-02. Juni 2012
Vitali Gerber, David X. Noack, Philipp Schulze, Peter Weinert, Benjamin Biggel
Tagungsbericht
Veröffentlicht am: 
19. November 2012

Das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) veranstaltete in Verbindung mit dem Lehrstuhl für Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt der Universität Potsdam am 1. und 2. Juni 2012 eine Tagung, die sich den Herausforderungen, Problemen und Wandlungen im Bereich militärgeschichtlicher Editionen widmete. Durch den technischen Fortschritt und aufgrund des gestiegenen gesellschaftlichen Informationsbedürfnisses ändern sich auch die Anforderungsprofile an Editionen. Diese Änderungen betreffen nicht nur die endgültige Form der Edition, sie haben auch Auswirkungen auf die Auswahl der zu edierenden Quellen und die Art und Weise in der Editoren tätig sind. Der erste Tag begann mit einer theoretischen und historischen Einführung und ging dann über in die Präsentation einiger „klassischer“ Editionen. Am zweiten Tag standen die Online Editionen im Mittelpunkt. Nach einer Einführung zum Stand der digitalen Editorik schloss sich die Vorstellung verschiedener Online-Projekte an.

Michael Epkenhans (MGFA) wies zu Beginn des ersten Tages auf einige Editionsprobleme hin. Viele historische Editionen basieren auf bearbeiteten Zeugnissen einzelner „Darsteller“. Die Absicht der Quelle muss deshalb einer besonderen Quellenkritik unterzogen werden, da sie nie „sine ira et studio“ verfasst wurde und es ausgeschlossen werden sollte, dass die Edition eine Plattform für Geschichtslenkung bzw. -kittung oder politische Instrumentalisierung bildet. Zusätzlich zur „historischen Einhegung“ der Quellen muss die angesprochene „Selbstsicht des Autors“ möglichst umfassend wissenschaftlich reflektiert werden. Diese Thematik griff auch Bernhard Kroener (Universität Potsdam) auf. Historische Quellen wie Kriegstagebücher sind subjektiv geprägte Dokumente. Der persönliche Hintergrund des Chronisten (Persönlichkeit, Bildungsstand, gesellschaftlicher Stand, gesellschaftliche Struktur, etc.) sollte möglichst umfassend ausgeleuchtet werden. Dies bedeute für den Editor, so Kroener, dass seine Hauptaufgabe in der „Dekodierung von Verstecktem“ bestehe.
Nach den einleitenden Vorträgen präsentierte Sven Petersen (Universität Göttingen) die Edition „Johann Heinrich Ludewig Grotehenn“, die eine Lebensbeschreibung und Briefe aus dem Siebenjährigen Krieg enthält. Durch die Betrachtung von einzelnen persönlichen Schriftstücken lasse sich eine Kulturgeschichte schreiben, die über den Erkenntnisbereich der offiziellen Geschichtsschreibung hinausreiche. Die Edition ging aus einem studentischen Seminar hervor, wurde danach weiter bearbeitet und mit Unterstützung des MGFA gedruckt. Das erste Exemplar des Buches wurde dem Bearbeiter Sven Petersen auf der Tagung überreicht.

Ob die „Privaten und dienstlichen Schriften von Gerhard von Scharnhorst“ online oder offline publiziert werden, war für den Editor, Michael Sikora (Universität Münster), nach eigenem Bekunden, nicht relevant. Dies sei eine Entscheidung der Verlage und nicht der Editoren selbst, bekräftigte er. Zur Fortführung seiner Edition (die er als „Dinosaurier“ bezeichnete), von der bisher sechs Bände veröffentlicht wurden, musste Band für Band zuerst die finanzielle Förderung gesichert sein. Unter den besonders wichtigen Förderern waren bzw. sind beispielsweise die Gerda-Henkel-Stiftung, das BMVg und diverse gemeinnützige Einrichtungen.
Eine Innenansicht der Obersten Heeresleitung im Ersten Weltkrieg gab Christian Stachelbeck (MGFA) mit seiner Vorstellung der Edition „Aufzeichnungen, Briefe und Tagebuchnotizen des Chefs des militärischen Nachrichtendienstes der OHL, Oberstleutnant Walter Nicolai, 1914–1918“. Als Grundlage für die Edition, die 2014 erscheinen soll, dienen der Editorengruppe die von Walter Nicolai geführten Aufzeichnungen, Briefe und dessen Kriegstagebuch. Das Editionsteam wählt die relevanten Quellen aus, fügt, wo nötig, einige Fußnoten zur hilfreichen Erklärung hinzu und sammelt wichtige Dokumente, die auf CD-Rom publiziert werden sollen.
Diskussionsbedarf erregten nachfolgend die Fragen, nach welchen Kriterien Dokumente für die Edition ausgewählt werden, welche Fassung (erste/letzte Hand, Abschrift) zum Abdruck gelangt, wie mit Kürzungen verfahren werden soll und wie Veränderungen im Text gekennzeichnet werden. Es herrschte relative Einigkeit über die Leitlinie, sich möglichst wenig in die Quelle „einzumischen“. Grundsätzliche Zustimmung fand auch die Einschätzung, dass eine „blanke“ und „reine“ Edition nicht möglich ist, da der Einfluss des Editors wichtig für die Einordnung und Vermittlung der Quelle sei.

Der Beitrag von Edith Raim (IfZ, München) erfuhr großes Interesse. Sie referierte über die Probleme und Zielsetzungen des Editionsprojekts „Hitler. Mein Kampf- Eine Edition“. Da dieses Buch eine zentrale Stellung innerhalb der nationalsozialistischen Weltanschauung einnahm und sich bis heute viele Mythen um die Entstehung und den Inhalt ranken, gilt es bei der historisch-kritischen Edition, die 2015 (Ablauf des Urheberschutzes) erscheinen soll, besondere Sorgfalt walten zu lassen. Ein erstes Problem sind die vielen verschiedenen Versionen und Auflagen des Textes. Ein weiteres ist der immense Aufwand, der notwendig ist, um die Entstehung des Buches und die Genese wichtiger Textpassagen in einen genauen historischen Kontext zu setzen.

Wie sehr der Zufall ein Editionsprojekt erst möglich macht, zeigt die Präsentation von Julia Paulus (LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte). Basierend auf einer großen und vollständigen Folge von Briefen und Gegenbriefen einer Soldatenheimschwester an der Ostfront und ihrer Familie in Deutschland ergibt sich ein sehr persönlicher Blick auf die Situation in der besetzten Ukraine im Zweiten Weltkrieg. Die Edition eines solch persönlichen Briefwechsels, ist bedingt durch Auslassungen, die dem Persönlichkeitsschutz geschuldet sind. Inwieweit sich die Erkenntnisse der Edition auf eine breitere Bevölkerungsbasis übertragen lassen, blieb jedoch unbeantwortet.

Alexander Kranz (Universität Potsdam) stellte im Folgenden das „Diensttagebuch des Chefs der Heeresrüstung und Befehlshabers des Ersatzheeres 1938-1943“ vor. Gerade weil das Diensttagebuch im Gegensatz zu gewöhnlichen Kriegstagebüchern zahlreiche ungeschminkte, nicht geglättete Aussagen zu den internen Abläufen und Problemen der Aufrüstung bereithält, bietet es tiefe Einblicke in die organisatorische Führung der Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges. Der stichpunktartige Charakter des Tagebuches verlangt indes einen hohen Kommentierungsgrad. Die Bearbeiter haben sich zwar mit den Vorzügen einer möglichen Online-Edition auseinandergesetzt (Register-Verweise im Hypertext, eine offene und deshalb nicht abgeschlossene Kommentierung etc.), präferieren mangels ähnlicher Beispieleditionen und aufgrund äußerlicher Sachzwänge jedoch die klassische Buchform.

Im Gegensatz zu den Editionen basierend auf Egodokumenten, liegen der von Dorothee Hochstetter (MGFA) vorgestellten Edition, hrsg. vom MGFA, stenografische Berichte als Quellen zugrunde. Die Protokolle des Bundestagsausschusses für Verteidigung und seiner Vorläufer werden bis zum Band 7 (Ende der 2. WP) in voller Länge abgedruckt. Die Einbettung in den historischen Kontext erfolgt über eine Einleitung, detaillierte Fußnoten, Anlagen, Register, eine Themenübersicht und eine Zeittafel. Hochstetter erläuterte, welche Vor- und Nachteile zu erwarten wären, würde man die Editionsreihe als Online-Edition fortführen. Dass die Protokolltexte in die neue Rechtschreibung gesetzt werden, traf zum Teil auf Erstaunen.

Das Auswärtige Amt veröffentlicht alljährlich Teile seines Archivs in einer Edition, die vom Institut für Zeitgeschichte erarbeitet wird. Aufgenommen werden Dokumente aus den Archiven des Außenministeriums, die durch eine Vorauswahl sowohl inhaltlich als auch nach Relevanz beurteilt werden. Ziel ist es, die Hauptereignisse des betreffenden Jahres chronologisch darzulegen. Besonderheiten der langjährigen Editionsreihe sind die fehlende Einleitung und das Bemühen, keine Sekundärliteratur in den Anmerkungen zu verwenden. Tim Geiger (IfZ Berlin) bezeichnete die Art und Weise der Präsentation in den Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland als „editorische old school“.
In der anschließenden Diskussion über die Frage „Was wäre, wenn meine Print-Edition eine digitale wäre?“ wurden die Vor- und Nachteile der Online-Edition noch einmal benannt. Die meisten Projektmitarbeiter brachten das Argument der zusätzlichen Kosten gegen die Online-Edition vor. Doch besteht die Forderung, dass ein von Steuergeldern in vollem Umfang finanziertes Projekt, jedem Bürger online zur Verfügung stehen sollte, weiterhin fort.

Der zweite Tag begann mit einer editionswissenschaftlichen Einführung in die Texttheorie digitaler Editionen und die Grundlagen der Informationsverarbeitung. Patrick Sahle (Universität Köln) erklärte in einem ausführlichen Vortrag die Beweglichkeit der Sprache, des Textes und der Information. Den verschiedenen Dimensionen eines Textes stehen verschiedene Methoden und Optionen der editorischen Aufarbeitung gegenüber.
Als erste digitale Edition, die auf einer bereits gedruckten Edition basiert, stellte Markus Roth (Universität Gießen) die Chronik des Gettos Łódź/Litzmannstadt vor. Aus der Verfügbarkeit im Netz und der medialen Mitarbeit der Nutzer ergebe sich vor allem im historisch „verminten“ Gebiet die Notwendigkeit von Schutzmechanismen gegen Missbrauch. Diese werden durch einen Administrator geboten und verwaltet. Die multimediale Edition verbindet verschiedene Quellen (Bilder, Zeitung, Audiobotschaften) und erreicht dadurch einen virtuellen Zugang zur Geschichte des Gettos.

Die Präsentation der Online-Edition „Selbstzeugnisse des Dreißigjährigen Krieges“ durch Hans Medick (Göttingen) zeigte eindrucksvoll, dass arrivierte und honorige Historiker die Arbeit mit und an einer Online-Edition nicht scheuen müssen. Die vorgestellte Edition kann unter anderem als Grundlage für eine noch nicht geschriebene Erfahrungs- und Alltagsgeschichte des Dreißigjährigen Krieges dienen. Die Fußnoten des „alten“ Systems ersetzen in der Online-Edition Hyperlinks, die zur detaillierten Erläuterung von Sachverhalten im Text dienen. Die Edition der Selbstzeugnisse scheint von den vorgestellten Editionen, welche bereits zugänglich sind, am besten den State of the Art von Online- Editionen darzustellen und kann dank Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Nutzung von Servern der Universitäts- und Landesbibliothek Jena im Sinne des Open Access von jedem Interessenten kostenfrei genutzt werden.
Denis Strohmeier und Paul Fröhlich (Potsdam) warfen ihren Blick auf zwei militärgeschichtliche Online-Editionen aus der Nutzerperspektive. Bei der ersten Edition „Lageberichte des Militärbefehlshabers Frankreich und Synthesen der Berichte der französischen Präfekten, 1940-1944“ entschieden sich die Herausgeber für eine Online-Edition, da zu viel Material für eine Print-Ausgabe vorgelegen habe. Eine Überlegung, die bei manch anderer Edition auch sinnvoll wäre. Die zweite Edition „Nationaler-Verteidigungsrat.de“ erweist sich als eine Art Online-Quellensammlung, die zwar Überblickstexte zu den Verteidigungsräten im Warschauer Pakt bereithält und die Protokolle des NVR durch Regesten erschließt, aber über keinen Anmerkungsapparat und keine Suchfunktion innerhalb der eingescannten Dokumente verfügt. Technische Probleme und eingeschränkte Nutzbarkeit bildeten aus Sicht der Nutzerperspektive die Hauptprobleme.

Peter Haber (Universität Basel), der sich selbst als ein Vertreter der digital humanities bezeichnete, ging in seinem Vortrag der Frage nach, inwiefern der technische Fortschritt auch die Arbeitsweise des Historikers verändert. Der Historiker befinde sich nicht in Entenhausen und verfüge nicht über ein abgeschlossenes „Schlaues Buch“ – ganz im Gegenteil. Durch das Internet könne kein Forschungsstand mehr als abgeschlossen gelten. Tatsächlich nehme die Zahl der online verfügbaren Publikationen zu. Haber verwies auf die steigende Relevanz von Online-Textverwaltungsprogrammen sowie von Formen kooperativen, online-basierten Schreibens. Seiner Meinung nach habe der historische Blog die Funktion der Miszellen eingenommen. Er plädierte dafür, dass jeder Historiker einigen Blogs folgen sollte. Trotzdem werde das gedruckte Buch noch für Generationen der „Goldstandard“ der Wissenschaft bleiben.

Thorsten Siegmann von der Staatsbibliothek zu Berlin präsentierte ein Projekt – welches im Gegensatz zu vielen anderen der dargestellten – eher weniger mit Geldproblemen zu kämpfen hat. Das von der Europäischen Kommission geförderte Digitalisierungsprojekt „100 Jahre Erster Weltkrieg“ hat bereits 50.000 Quellen, aus einem Bestand von 450.000 Fundstücken, online gestellt. Jedoch ist die Klärung von Rechtsanspruchsfragen, und der Umgang mit der großen Fülle an Dokumenten aus ganz Europa und deren Zusammenführung schwierig und langwierig.

Thomas Jander von der Museumsstiftung Post und Telekommunikation zeigte mit dem Projekt „Edition von Feldpostbriefen im Internet“, dass selbst mit einem kleinen Mitarbeiterstab bedeutende Arbeit geleistet werden kann. So stellte sein Team bereits über 100.000 Briefe aus den Weltkriegen zur Verfügung. Bei der Auswahl der Schriftstücke wird versucht die Vielfalt der in den Briefen behandelten Themen abzubilden und dabei die verschiedenen Teilstreitkräfte und Einsatzregionen zu berücksichtigen. Aufgrund mangelnder Ressourcen könne die Stiftung keinen sachkritischen Apparat zur Verfügung stellen, was aber nicht die Bewertung der geleisteten Arbeit und der zur Verfügung gestellten Quellen schmälert.
Den Abschluss der Tagung bildete die Diskussion mit Verlagsvertretern von De Gruyter, Böhlau, Oldenbourg und Schöningh. Alle betonten die grundsätzlich positive Einstellung gegenüber Online-Editionen, deren Bandbreite im Verlagsprogramm von ausgefeilten Datenbankstrukturen bis hin zu durchsuchbaren PDF reicht. Ebenfalls Einigkeit herrschte über den hohen wissenschaftlichen Standard, der auch an Online-Editionen anzulegen ist. Jedoch herrschte Skepsis bei den Nutzungsbedingungen (Open-Access oder kostenpflichtiger Zugang). Das E-Book als Zukunftsversion konnten sich die Verlagsvertreter als vielversprechenden Weg vorstellen, mit dem man eine Fülle von Informationen klar strukturiert abrufen könnte.

Bilanz: Auf dem Workshop wurde eine Reihe von wichtigen Problemen angesprochen, mit denen Verlage, Herausgeber und Editoren jetzt und in Zukunft umgehen müssen. Das Interesse und der vorhandene Diskussionsbedarf haben eindrücklich gezeigt, dass auch in Zukunft Editionen ein unabdingbares Hilfsmittel für die Wissenschaft bleiben werden. Ob die Form der digitalen Publikation ein breiteres Publikum anspricht, ist aufgrund der Spezifität der Quellen und der damit einhergehenden limitierten Nutzergruppen höchst fraglich. Sicher ist aber, dass die Nutzung des Internets neue Methoden der Bearbeitung von Editionen und der Arbeit mit ihnen ermöglicht. Doch gibt es sowohl bei den potenziellen Nutzern als auch bei den Editoren selbst noch eine Reihe von Vorbehalten gegenüber Internetpublikationen, die unter anderem mit den schwer kalkulierbaren Herstellungs- und Langzeitkosten, mit dem fehlenden technischen Know-How und den unbeantworteten Fragen zur Datensicherheit begründet wurden. Doch sollte man sich durch den Zuwachs an Instrumentarien nicht abschrecken lassen. Die verschiedenen vorgestellten Projekte haben gezeigt, dass Online-Editionen nicht als ein Konkurrenzprodukt betrachtet werden müssen. Sie sind vielmehr neben den gedruckten Editionen, die auch weiterhin ihre Relevanz behalten, eine sinnvolle Ergänzung und sollten es jedem Historiker erlauben (wenn wir die Finanzierbarkeit einmal außer Acht lassen), mit der Veröffentlichungsform zu arbeiten, die seiner Arbeitsmethodik entspricht und die am besten geeignet ist, die jeweilige Quelle zu präsentieren und zu nutzen. Viele der Problemfelder oder neuen wissenschaftlichen Ansätze konnten aufgrund des Überblickscharakters der Veranstaltung nur oberflächlich behandelt werden. Eine Fortsetzung des wissenschaftlichen Austausches über Editionen erscheint daher wünschenswert. Anregungen für zukünftige Tagungen und für die weitere Beschäftigung mit Editionsproblemen könnte die gedruckte Fassung der Beiträge des Workshops bringen, die zurzeit im MGFA vorbereitet wird.

 

 

 

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