Eine Konferenz in Paris ermöglicht dem französischen sicherheitspolitischen Nachwuchs, sich in die Debatte um die Revue stratégique einzubringen
Jéronimo Barbin
Tagungsbericht
Veröffentlicht am: 
17. Dezember 2017

Die veränderte internationale Sicherheitslage der letzten Jahre repräsentiert für zahlreiche europäische Staaten einen fundamentalen Wandel, vergleichbar mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende der Ost-West-Konfrontation. Die andauernde Instabilität im Nahen und Mittleren Osten seit dem Arabischen Frühling 2011, der Feldzug des sogenannten Islamischen Staates in Syrien und im Irak, die Durchsetzung politischer Interessen mittels militärischer Instrumente durch Russland, die andauernde terroristische Bedrohung europäischer Städte, der bevorstehende Abschied Großbritanniens aus der Europäischen Union und nicht zuletzt die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika sind Entwicklungen, die die internationalen Kräfteverhältnisse neu ordnen. Diese Veränderungen haben einen direkten Einfluss auf die verteidigungs- und sicherheitspolitischen Planungen europäischer Staaten und so ist es nicht verwunderlich, dass nach Großbritannien (2015), Deutschland (2016) oder Litauen (2017) nun auch Frankreich unter seinem neuen Präsidenten Emmanuel Macron eine Überprüfung seiner Verteidigungspolitik und nationalen Sicherheitsstrategie durchgeführt hat.

Die von Macron bereits im Präsidentschaftswahlkampf geforderte Revue stratégique wurde Anfang Oktober 2017 veröffentlicht1 mit dem Ziel, neue verteidigungspolitische Prioritäten zu definieren mit Blick auf die notwendige Erneuerung der Wehrplanung (Loi de programmation militaire) für die Jahre 2019 bis 2025. Bemerkenswert an dem Erarbeitungsprozess dieses strategischen Dokuments war insbesondere die erstmalige Beteiligung französischer Nachwuchswissenschaftler, vornehmlich Doktoranden und Postdoktoranden. Die sogenannten „Jeunes chercheurs“ wurden im Sommer 2017 dazu aufgerufen, ihre Sicht auf die aktuellen und zukünftigen strategischen Herausforderungen und Bedrohungen darzustellen. Ende August hatten die Autoren – welche nicht nur aus Frankreich, sondern auch aus Kanada, Italien, Schweden oder auch Deutschland angereist waren – schließlich die Möglichkeit, ihre Beiträge während einer eintägigen Konferenz an der École Militaire in Paris vorzustellen.

Die Veranstaltung war mit knapp 300 Anwesenden gut und hochrangig besucht. Neben zahlreichen Generalen, Diplomaten und hohen Beamten unterschiedlicher französischer Ministerien – darunter der Kabinettschef der französischen Verteidigungsministerin – nahmen auch zahlreiche Journalisten sowie Wissenschaftler französischer Think Tanks und universitärer Einrichtungen an ihr teil. Inhaltlich gliederte sich die Konferenz einerseits in thematische Panels auf, welche neuartige Herausforderungen und Bedrohungen wie Cyberangriffe, den internationalen Terrorismus oder den Klimawandel in den Blick nahmen. Als europäische Gestaltungsmacht mit globalem Geltungsanspruch und weltweiter Militär- und Wirtschaftspräsenz blickte man andererseits in regionalen Panels folgerichtig nicht nur auf Europa, sondern auch auf Afrika und Asien. Vorträge zur Instabilität in der Sahelregion, zu den strategischen Partnerschaften mit Katar und Djibouti sowie zu den tiefgreifenden Verwerfungen und Rivalitäten im ostasiatischen Raum zeugten von der weitreichenden französischen Regionalexpertise, welche auch für die Zukunft gesichert zu sein scheint. Dennoch wurde in den vorgestellten Beiträgen deutlich, dass auch in Frankreich die sicherheitspolitische Diskussion von europäischen Themen dominiert wird. Insbesondere das Widererstarken Russlands und die Durchsetzung nationaler Interessen mit militärischen Mitteln wurden kritisch und mit Sorge wahrgenommen.

So beschäftigten sich im Europa-Panel zahlreiche Beiträge dezidiert mit den unterschiedlichen Facetten der Spannungen zwischen Russland und den westlichen Staaten. Alexander BARKHUDARYANTS (Institut Français de Géopolitique, Paris) untersuchte beispielsweise die strategischen Implikationen, welche mit der Stationierung von russischen Anti Access/Area Denial-Waffensystemen in Syrien und Osteuropa für das Gleichgewicht der Kräfte zwischen westlichen und russischen Streitkräften einhergehen. Die Stationierung von S-400 Boden-Luft-Raketensystemen wertete BARKHUDARYANTS als asymmetrische Antwort auf den US- Raketenabwehrschirm in Europa. Ein Zeitfenster für Verhandlungen über diesen Abwehrschirm habe unter der Präsidentschaft von Dmitri Medwedew bestanden, sei mit der erneuten Präsidentschaft Wladimir Putins aber wieder verschlossen. Es bestehe nunmehr lediglich die Möglichkeit, die Reichweite der Systeme durch diplomatische oder technologische Mittel zu vermindern. Sanktionserleichterungen könnten einerseits als Gegenleistung für einen Austausch der S-400 (maximal 400 Kilometer Reichweite) durch weniger potente Systeme angeboten werden. Eine andere Möglichkeit wäre, diese Systeme durch Cyberangriffe unschädlich zu machen.

Die Politikwissenschaftlerin Zivile KALIBATAITE (Université de Namur, Belgien) widmete sich den Ängsten der baltischen Staaten, welche sich angesichts der militärischen, aber auch nicht-militärischen Aktivitäten in ihrem direkten Umfeld Destabilisierungsversuchen Russlands ausgesetzt sehen. Laut KALIBATAITE sei insbesondere die Informationskriegführung gegen diese Länder ein Pfeiler russischer hybrider Aktivitäten gegen den Westen und bereits stark gefestigt. So schaffe es Russland durch sogenannte „Fake News“ und Desinformation Diskussionen zu prägen und ein eigenes Narrativ zu etablieren, welches unter anderem die Verhinderung eines litauischen Kernkraftwerkes zugunsten eines russischen in Kaliningrad zur Folge hatte. KALIBATAITE sieht zudem die Gefahr einer Politik der vollendeten Tatsachen. Angesichts der geringen strategischen Tiefe dieser Länder und der sogenannten Suwalki-Lücke – ein kurzer Landstreifen von knapp 100 Kilometer, welcher im polnisch-litauischen Grenzgebiet Kaliningrad von Weißrussland trennt – seien die baltischen Staaten nicht nur leicht einnehmbar, sondern mittels taktischer Atombomben auch leicht isolierbar. Notwendig seien daher Maßnahmen, um die Widerstandskraft und Resilienz der baltischen Staaten durch Eingreiftruppen, durch eine verstärkte Mobilisierung der Bevölkerung sowie durch eine aktivere und verbesserte strategische Kommunikation zu erhöhen.

Pauline PIC (Laval University, Kanada) richtete ihren Blick auf die Arktis, ein weiteres und oftmals vergessenes Konfrontationsgebiet zwischen Russland und den westlichen Staaten. Für die Geografin hat mit dem Schmelzen der Polkappen ein neuer Wettlauf begonnen, welcher am ehesten mit dem Wettlauf um Afrika verglichen werden könne. Neben den unbestreitbaren wirtschaftlichen Möglichkeiten dränge sich aber insbesondere die operativ-strategische Dimension auf, so PIC. Für strategische U-Boote repräsentiere die Arktis nämlich ein perfektes Einsatzgebiet: so gut wie alle interessanten Ziele seien von dort aus erreichbar.

Das Cyber-Panel verdeutlichte den Formenwandel heutiger Konfrontationen und unterstrich, dass Bedrohungen heutzutage nicht mehr allein von traditionellen militärischen Fähigkeiten ausgehen. Staaten wie Russland und China, aber auch nicht-staatliche Akteure, würden moderne Kommunikationstechnologien instrumentalisieren und aggressiv einsetzen. Beispielhaft seien hierfür sowohl Havarien von US Navy-Schiffen wie der USS John S. McCain, welche auf Hackerangriffe zurückzuführen seien, als auch der WannaCry-Virus, welcher auf einer von der NSA ausgemachten Windows-Sicherheitslücke namens EternalBlue basierte und anschließend in die Hände von Kriminellen gelangt sei. Das Know-How um sogenannte Cyberwaffen und ihre Proliferation stelle daher eine besondere Gefahr dar. Ihr müsse deshalb durch ein Vertragsregime in Anlehnung an den Atomwaffensperrvertrag Einhalt geboten werden, so Aude GÉRY (Université de Rouen). Gewisse Staaten würden zudem neue Kommunikationstechnologien, insbesondere zu Wahlkampfzeiten, extensiv als Mittel der Beeinflussung einsetzen. Entsprechende russische Aktionen seien nicht nur aus den USA, sondern auch aus dem französischen Präsidentschaftswahlkampf 2017 bekannt. Solche „Informationsoperationen“ veranschaulichte Louis PÉTINIAUD (Institut Français de Géopolitique, Paris) mittels einer Kartografierung unterschiedlicher politischer Gruppierungen der pro-russischen „Twittersphäre“ in Frankreich. Eine solche Kartografierung ermögliche einerseits, Twitternutzer politischen und sozialen Kategorien zuzuordnen und andererseits, Informationsflüsse nachzuvollziehen, beispielsweise den Ursprung der sogenannten #Macronleaks.

Die größere Versiertheit gewisser Staaten im Umgang mit neuen Technologien habe auch historische Gründe, so die Politikwissenschaftlerin Marine GUILLAUME (Institut d’études politiques, Paris). Lange vor den Europäern hätten Länder wie Russland oder auch China verstanden, die Einsatzmöglichkeiten des Internets nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch zu denken. Entsprechend hätten beide Länder bereits zur Jahrtausendwende Strategiedokumente zur Cybersicherheit vorgelegt, die USA sogar bereits im Jahr 1991. Europäische Staaten wie Deutschland und Großbritannien seien erst nach den Hacker-Angriffen Russlands auf Estland 2007 für diese Dimension sensibilisiert worden und hätten 2011 entsprechende Dokumente vorgelegt, Frankreich sogar erst 2013. Die staatliche Vernachlässigung dieses Bereichs habe sich auch nachteilig auf entsprechende Entwicklungen im privatwirtschaftlichen Sektor ausgewirkt. Europa habe sich dadurch, so GUILLAUME, zu einer „digitalen Kolonie der USA“ entwickelt, da sich europäische Daten vornehmlich im Besitz amerikanischer Unternehmen befänden. Dies sei auch das Resultat strategischer Fehlentscheidungen, wie am Beispiel des Projekts CYCLADES verdeutlicht wurde. Anfang der 1970er Jahre forschte Frankreich in etwa zeitgleich zum ARPANET der USA an einem globalen Telekommunikationsnetz und lieferte so Grundlagen für das spätere Internet. Das Projekt wurde jedoch aufgrund von naiver und falscher haushaltspolitischer Prioritätensetzung 1978 wieder aufgegeben, so GUILLAUME.

Diese Vermischung von konventioneller und unkonventioneller, von regulärer und irregulärer Kriegführung wird neuerdings unter dem Oberbegriff hybride Kriegführung zusammengefasst – ein Konzept, welches auf dem Panel zu den neuen strategischen Herausforderungen vorgestellt und diskutiert wurde. Jéronimo BARBIN (ZMSBw, Potsdam) stellte dar, wie das Konzept in seiner ursprünglichen US-Konzeption zur Beschreibung der erhöhten Feuerkraft nicht-staatlicher Akteure ab 2014 – in Europa und insbesondere durch die NATO und die EU – zur Vokabel für eine russische Art der Kriegführung wurde, welche sich gegen westliche und pro-westliche Staaten richte. In dieser neuen Auslegung sei das Konzept in Frankreich auf starke Kritik gestoßen. Namhafte Vertreter der französischen strategic community hätten es als beliebig und wenig konsistent beschrieben, weshalb sich auch der Redaktionsausschuss der Revue stratégique ob seiner Verwendung sehr skeptisch zeigte.

Mit Blick auf das französische Interesse an deutschen Positionen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik ergab sich ein gemischtes Bild. Von 46 Vortragenden beschäftigte sich lediglich Laurent BORZILLO (Université de Montpellier/Université de Montréal, Kanada) dezidiert mit Deutschland. In seinem Vortrag referierte er über den Weißbuchprozess des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg) und stellte die Leitlinien deutscher Verteidigungspolitik dar. Er ging hierbei der Frage nach, ob Frankreich im Bedarfsfall bei zukünftigen Militäreinsätzen auf Deutschland zählen könne. BORZILLO hob hervor, dass Deutschland sich den Interessen und der Sicherheit seiner europäischen Partner verpflichtet sehe und sich – dem Buchstaben nach – auch Ad-hoc-Koalitionen nicht verschließe. BORZILLO wies zugleich aber auch auf Widersprüchlichkeiten im Weißbuchprozess hin. Zum einen hätten andere Weißbuchprozesse, wie jener des Auswärtigen Amts, in kompletter Unabhängigkeit zum BMVg und somit nicht ressortübergreifend stattgefunden. Zum anderen hätte nur eine Handvoll Bundestagsabgeordnete an den Workshops zur Erarbeitung des Weißbuches teilgenommen. So stelle sich die Frage, inwiefern dieses Dokument für die Bundesregierung und das Parlament überhaupt bindend und handlungsleitend sei.

Darüber hinaus war Deutschland im Laufe der Konferenz auch immer wieder Gegenstand von Einzelaspekten in Beiträgen. Jéronimo BARBIN legte in seinem Beitrag zur hybriden Kriegführung die Bedeutung dieses Konzepts in der deutschen Fachdebatte und verteidigungspolitischen Agenda dar. Im gleichen Panel suchte Frédéric GLORIANT (École Normale Supérieure, Paris) in der zweiten Berlinkrise (1958-1963) nach Lehren für die aktuellen Spannungen zwischen Russland und den USA. Dem damaligen Beispiel de Gaulles folgend sah GLORIANT die Notwendigkeit einer Herausbildung eines starken Europas, welches sich von den USA emanzipiere. Die USA müssten aus den innereuropäischen Beziehungen herausgehalten werden, damit die europäischen Staaten auf Augenhöhe mit Russland verhandeln könnten. Deutschland stelle mit seiner starken transatlantischen Ausrichtung ein Hindernis für eine solche Politik dar, so GLORIANT.

Auch von Seiten der Teilnehmenden gab es gezielte Nachfragen zu Deutschland. Neben allgemeineren Fragen zur Entwicklung der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in den letzten Jahrzehnten sowie zu ihrer transatlantischen Ausrichtung wurde auch das Verhältnis zu Russland hinterfragt. So wurde beispielsweise insinuiert, Deutschland habe aufgrund seiner starken ökonomischen Interessen und der bedeutenden Stellung des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft eine versteckte Agenda in Bezug auf Russland. Auch wurde die deutsche Debatte um eine mögliche eigene atomare Kapazität beziehungsweise um eine deutsche Ko-Finanzierung einer europäischen Atombombe mit großem Interesse wahrgenommen.

Allgemein scheint die Deutschland-Expertise in Frankreich jedoch wenig ausgebildet und oftmals noch von Klischees und Unkenntnis über die Strukturen und Entscheidungsprozesse geprägt zu sein. Sicherlich kann dies auch auf vorhandene Sprachbarrieren – auf beiden Seiten – zurückgeführt werden. Angesichts der weiterhin als dominant wahrgenommenen wirtschaftlichen Stärke Deutschlands in Europa oder aber der in Teilen französischer sicherheitspolitischer Fachkreise ausgemachten Gefahr einer „Gemanisierung“2 der Rüstungs- und Verteidigungspolitik Frankreichs könnte ein direkterer gesellschaftlicher Austausch weiter forciert werden. Erwähnens- und begrüßenswert sind daher institutionalisierte Initiativen wie der „Deutsch-Französische Zukunftsdialog“ oder die Teilnahme deutscher Studenten an sicherheitspolitischen Seminaren der Pariser École Militaire, wie dies beispielsweise 2013 im Rahmen des fünfzigjährigen Jubiläums des Elysée-Vertrags geschah. Auch der Ausbau informeller Kontakte mit französischen sicherheitspolitischen Gruppierungen in Deutschland, wie dem deutsch-französischen Sicherheitsdialog oder auch der Berliner Delegation des Alumni-Vereins des sicherheitspolitischen Seminars der École Militaire ANAJ, wäre in dieser Hinsicht gewinnbringend.

Insgesamt gesehen war die Konferenz in Paris ein schönes Beispiel für eine Beteiligung der Zivilgesellschaft an sicherheits- und verteidigungspolitischen Entscheidungen. Auch der sicherheitspolitische Nachwuchs kann von solch einer Übung nur profitieren. Zwar ist nicht gesichert, inwiefern die Ergebnisse der Konferenz in die Revue stratégique eingeflossen sind. Doch wurde jungen Wissenschaftlern zumindest eine Bühne geboten, um eigene Sichtweisen zu präsentieren, um wahrgenommen und gehört zu werden. Ein ähnliches Vorgehen ist vom Weißbuchprozess des BMVg nicht bekannt. Durch die Veröffentlichung ausgewählter Beiträge in einer Sonderausgabe der Fachzeitschrift Champ de Mars Anfang 2018 soll schließlich auch breiteren Teilen der sicherheitspolitisch interessierten Zivilgesellschaft die Möglichkeit geboten werden, diese strategische Reflexion der neuen Generation nachzuvollziehen.

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