Das Erbe des Tirpitz-Plans und der Kampf um die „Zukunft auf dem Wasser“
Benjamin Miertzschke
Projektskizze
Veröffentlicht am: 
20. April 2024

"Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser", hatte Kaiser Wilhelm II. den Deutschen im September 1898 bei der Eröffnung des Stettiner Freihafens verkündet, knapp ein halbes Jahr, nachdem das erste Flottengesetz den Reichstag passiert hatte. Mithilfe der Flotte, das war zu dieser Zeit nicht nur der Traum des Monarchen, sondern auch der eines zunehmenden Teils des Bürgertums, sollte Deutschland von einer europäischen Großmacht zu einer Weltmacht aufsteigen. Um dieses Ziel zu erreichen, plante Admiral Tirpitz, 1897 vom Kaiser zum Chef des Reichsmarineamtes ernannt, den Aufbau einer Schlachtflotte zur Durchsetzung deutscher weltpolitischer Interessen gegenüber der bestehenden Weltmacht Großbritannien.

Bis zum Jahr 1914 hatte die ursprüngliche Flottenbegeisterung der Jahrhundertwende jedoch deutlich abgenommen. Anders als von Tirpitz und vielen anderen Marineenthusiasten erhofft, hatte der Flottenbau den außenpolitischen Aktionsrahmen Deutschlands weiter eingeschränkt, anstatt ihn zu erhöhen. Zusätzlich hatte er die Finanzen des Reiches über die Maßen strapaziert und dem Aufstieg der Sozialdemokratie dadurch weiter Vorschub geleistet, anstatt diese, wie von Tirpitz erwartet, zu schwächen. Am Ende verfehlte der Flottenbau auch den von Tirpitz intendierten Hauptzweck, Großbritannien von einem Krieg gegen Deutschland abzuschrecken. Der ursprüngliche Tirpitz-Plan (Volker Berghahn) war somit spätestens bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs gescheitert.

An dieser Stelle setzt das Dissertationsprojekt an, das sich mit der Weiterentwicklung der langfristigen deutschen Marinepolitik während des Ersten Weltkriegs beschäftigt. Im Gegensatz zur Seekriegführung wurde diese bisher von der Geschichtswissenschaft nur wenig beachtet. Die Arbeit geht dabei von der These aus, dass der Erste Weltkrieg, ungeachtet aller Widrigkeiten, die der Kriegsausbruch für die unfertige Flotte mit sich brachte, von der Kaiserlichen Marine als einmalige und letzte Gelegenheit zur Verwirklichung ihrer Ziele angesehen wurde. Durch die Erlangung einer weltpolitischen Machtstellung sollte Deutschland als gleichberechtigte Seemacht neben Großbritannien etabliert, die Tirpitz´sche Flottenrüstung rückwirkend legitimiert, die Stellung der Marine im Herrschaftsgefüge des Reichs konsolidiert und die deutsche Bevölkerung auf ein neues großangelegtes Flottenbauprogramm für die Zeit nach dem Krieg eingestimmt werden. Davon ausgehend konzentriert sich die Studie auf drei wesentliche Aspekte der Marinepolitik: Erstens soll die Arbeit die Aspekte der Strategieentwicklung und Flottenbaupolitik mit einem weitgesteckten zeitlichen Horizont über das erwartete Kriegsende hinaus beleuchten. Es soll danach gefragt werden, welche seestrategischen Ansätze während des Krieges entwickelt wurden, um den Tirpitz-Plan langfristig zu ersetzen, und wie die sich daran orientierenden Bauprogramme ausgesehen hätten. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei der Bewertung der Rolle des Großkampfschiffes und seiner geplanten weiteren Entwicklung vor dem Hintergrund der steigenden Bedeutung des U-Bootes.

Zweitens soll die außenpolitische Einflussnahme der Marine, insbesondere im Hinblick auf die Kriegsziele, untersucht werden. Dazu soll die Entwicklung der Kriegszieldebatte innerhalb der Marine nachgezeichnet und in ihren Wechselwirkungen mit der Reichsleitung sowie Akteuren aus Politik und Wirtschaft analysiert werden. Dies gilt sowohl für die außenpolitische Gesamtausrichtung des Reiches als auch speziell im Hinblick auf die Frage nach zu erwerbenden Stützpunkten.

Drittens schließlich soll auch den Aspekten Innenpolitik und Propaganda Aufmerksamkeit zuteilwerden. Hier gilt es zu untersuchen, welche Resonanzen die Planungen der Marine in den politischen Debatten erzeugten und von welchen politischen Strömungen und wirtschaftlichen Interessengruppen sie weiterhin Unterstützung für ihre Zukunftspläne erfuhr. In diesem Zusammenhang soll auch aufgezeigt werden, mit welchen Propagandamaßnahmen die Marine versuchte, ihr Ansehen in der Bevölkerung aufrechtzuerhalten und diese für ihre Ziele zu gewinnen.

Das Thema der Arbeit muss dabei nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der im Zuge des Krieges anwachsenden Tendenzen betrachtet werden, den zukünftigen außenpolitischen Aktionsraum Deutschlands vorrangig in Kontinentaleuropa und Vorderasien zu sehen. Ein weiteres Ziel der Arbeit ist es daher zu schildern, wie der Erste Weltkrieg für die Kaiserliche Marine nicht nur nach außen, gegen den Hauptfeind England, sondern vor allem auch nach innen einen Kampf um die "Zukunft auf dem Wasser" darstellte.

Auf diese Weise erfährt das militärhistorische Kernthema der Arbeit eine Einbettung in einen gesamtgesellschaftlichen Rahmen und wird in seinen Wechselbeziehungen mit den übergeordneten politischen Zusammenhängen, sozioökonomischen Triebkräften und kulturellen Hintergründen analysiert.

Als Quellengrundlage dienen unter anderem die Kriegsakten des Reichsmarineamts, des Admiralstabs und der Hochseeflotte, der Reichsleitung und des Auswärtigen Amts, die Nachlässe hochrangiger Marineoffiziere und herausragender Vertreter aus Politik und Wirtschaft des Kaiserreichs sowie zahlreiche Publikationen aus der Kaiserlichen Marine und von den mit ihr assoziierten Propagandisten.

Das Dissertationsprojekt wird von Prof. Dr. Michael Epkenhans und Prof. Dr. Sönke Neitzel an der Universität Potsdam betreut.