Die Konsequenzen des Ersten Weltkrieges für das Bild und die Verhältnisse der jüdischen Einwanderer
Yasmina Zian
Projektskizze
Veröffentlicht am: 
26. Mai 2014

Am 21. November 1918, vier Tage nach Ausrufung der Befreiung von Brüssel wird ein anonymer Brief an den Staatsanwalt des Königs geschickt. „Empörte Nachbarn“[1] beschuldigen Herrn N. während des Kriegs mit dem Feind kollaboriert zu haben. Sie nennen ihn „germanophil“, Anarchist und Kommunist, und verweisen besonders auf seine polnischen Wurzeln. Bereits im Oktober war Herr N. im Gefängnis von Forest inhaftiert worden. Während seiner Haft schrieb er Briefe an den Chef der Sûreté Publique, in denen er sein Handeln erklärte und seine Loyalität gegenüber Belgien beteuerte. Dadurch hoffte er aus dem Gefängnis freizukommen.[2]

Wie viele jüdische Einwanderer ist Herr N. Ende des 19. Jahrhunderts in Belgien angekommen. Als die deutschen Truppen am 4. August 1914 in Belgien einmarschierten, war die jüdische Präsenz in den Großstädten noch relativ jung. Obwohl gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Migrationsbewegungen deutlich mehr Menschen aus Belgien wegführten[3], gab es doch eine jüdische Einwanderungswelle, die sich mit der schwierigen sozioökonomischen Lage sowie dem wachsenden Antisemitismus in Osteuropa und Russland erklären lässt.

Un regard étrange(r) - Der Blickwinkel der Fremden

Die Kriegserfahrung von Einwanderern ist besonders, weil sie einen nicht-nationalen Blick auf eine wesensmäßig nationale Erfahrung gibt. Natürlich waren die Erfahrungen nicht für alle Einwanderer gleich. Einige blieben, andere wanderten aus. Einige kamen zurück, andere wurden für immer vertrieben. Es gibt viele unterschiedliche Geschichten, die sich nicht verallgemeinern lassen. Durch die Vielschichtigkeit dieser Phänomene entstehen neue Perspektiven für die Geschichtswissenschaft.

Wie die Erfahrung von Einwanderern einen neuen Blick auf die Geschichte des Ersten Weltkrieges bringt, so kann auch die Immigrationsgeschichte vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges aus einem neuen Gesichtspunkt analysiert werden. Wie verändert ein solches Ereignis die Beziehungen zwischen Einwanderern und Belgiern? Welchen Einfluss hat der Krieg auf den Patriotismus, welcher eine potenzielle Quelle für den Ausschluss von Anderen ist? Wie leben die jüdischen Einwanderer während des Konflikts? Werden sie mehr als die Belgier verdächtigt, mit dem Feind zu kollaborieren? Profitieren sie von den gleichen Hilfsprogrammen für Nahrungsversorgung und Unterkunft? Und was ist mit denen, die aus Belgien flüchten; warum kommen sie nach dem Ende des Konflikts nach Belgien zurück?

In der vorliegenden Forschungsliteratur liegt der Fokus also einerseits auf der Kriegserfahrung. Andererseits gehe ich dem Verhältnis zwischen Belgiern und Immigranten mit jüdischen Wurzeln nach. Anhand der Spuren, die zeitgenössische Akteure – Belgier oder nicht – in diesem Konflikt hinterlassen haben, versuche ich zu zeigen, wie er ihre Sicht der Dinge geprägt und ihre Bereitschaft zur Identifikation mit dem Staat verändert hat.

Um die Qualität der Beziehungen zwischen den Immigranten mit jüdischen Wurzeln und dem belgischen Staat zu beurteilen, werde ich auch das Verhältnis der nicht-jüdischen Immigranten zum Staat untersuchen. Außerdem wird die Situation zwischen der jüdischen Gemeinde in Brüssel und den frisch angekommenen Juden analysiert werden. Darauf liegt nicht der Schwerpunkt, aber es erscheint wichtig, die Konflikte zwischen „akulturierten Juden“ und „neuen jüdischen Immigranten“ zu verstehen, vor allem wenn sich das Forschungsthema auf Phänomene wie Nationalidentität, soziale und religiöse Zugehörigkeiten und den Ausschluss von Anderen wegen ihrer Religion oder Nationalität konzentrieren soll.

Für die Analyse der Beziehungen zwischen Einwanderern mit jüdischen Wurzeln und dem Staat wurde eine Stichprobe von Nicht-Belgiern, die zwischen 1910 und 1920 in dem Brüsseler Viertel Cureghem gewohnt haben, genommen. Mit Hilfe der Dossiers, die von der Police des Etrangers zu diesen Personen angelegt wurden, war es möglich, den Spuren der Immigranten in dieses Viertel zu folgen. Die Micro-histoire kann, weil sie das Individuum ins Zentrum der Betrachtung stellt, anhand der Rekonstruktion des täglichen Lebens die latente Judäophobie klarer erscheinen lassen. Weil sich der Sinn der Micro-histoire aber nur in einem größeren Kontext erschließt, werden die einzelnen "Dossiers" durch zusätzliche Betrachtung der nationalen Dimension im Umgang mit Migranten ergänzt, insbesondere durch die Betrachtung der Einbürgerungspraxis.

Ein blinder Fleck der Geschichtsschreibung oder Belgien als Ausnahme?

Das Interesse für unser Thema lässt sich unter anderem darin begründen, dass es bisher nur wenige Veröffentlichungen und Nachforschungen dazu gibt. Dies erlaubt uns demnach, unsere Recherchen breiter aufzustellen, als es der Fall wäre, wenn bereits eine Vielzahl von Arbeiten darüber existierten. Während des ersten Weltkrieges und der 1920er Jahre war die politische Debatte in Belgien überwiegend von Forderungen seitens der flämischen Bevölkerung nach mehr gesellschaftlicher Teilhabe, sowie von Bemühungen seitens der Arbeiterpartei Parti Ouvrier Belge (POB) um ein allgemeines Wahlrecht für Männer bestimmt.[4] Der Vorrang dieser Debatten kann eine Erklärung sein für die Abwesenheit des Antisemitismus als Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Aber kann man infolgedessen sagen, dass es keinen Antisemitismus gab? Warum unterscheide ich in meiner Forschung die „jüdischen Einwanderer“ von anderen Einwanderer, obwohl nichts dafür spricht, dass sie anders behandelt wurden? Ist dies nicht eine neue Form der Stigmatisierung? Warum also diese Pseudo-Unterschiede heraufbeschwören?

Wie bereits erwähnt, gehe ich von der Annahme aus, dass Antisemitismus in Belgien latent vorhanden war. Auch wenn alle gesetzlichen Vorraussetzungen erfüllt waren, um Diskriminierungen aufgrund religiöser Zugehörigkeit auszuschließen, legen die Dokumente aus den Archiven der Police des Etrangers nahe, dass es sie trotzdem gab. Die Durchsicht der Archivakten ist noch nicht abgeschlossen, aber der Vermerk des Wortes „Jude“ in einem Dossier – wenn auch selten – ist der Beweis, dass das Gesetz nicht überall praktiziert wurde. Ich will damit nicht sagen, dass der Staat per se antisemitisch war. Ich behaupte allerdings, dass die These einer Abwesenheit des Antisemitismus in Belgien relativiert werden muss.

Die religiöse Zugehörigkeit, aber auch die nationale Herkunft spielt eine Rolle in der Konstruktion des Bildes, das der „Belgier“ sich von dem „jüdischen Immigranten“ macht. Im Hinblick auf die nationale Herkunft finden sich häufig abfällige Äußerungen gegenüber polnischen und russischen Einwanderern. Polen werden übrigens während der 1920er Jahre verdächtigt, Kommunisten zu sein, und deshalb wiederholt kontrolliert. Das Gesetz, das Vandervelde im Juli 1919 verabschiedet hat, nachdem „der Belgier, der seine Pflichten gegenüber Belgien oder den Alliierten nicht erfüllt hat, sein belgische Staatsangehörigkeit verliert“[5], zeugt von Misstrauen gegenüber den „Ausländern“ im Algemeinen. Dieses Misstrauen wird sich während der Zwischen-Kriegszeit verstärken. So werden die Angst vor dem Kommunismus und die Phobie vor „Ausländern“, die als Agenten für einen feindlichen Staat arbeiten könnten, zum Leitmotiv der neuen Politik und des Diskurses bezüglich der „Fremden“.

Meine Dissertation entsteht im Rahmen des Forschungskollegs "Der Erste Weltkrieg und die Konflikte der europäischen Nachkriegsordnung (1914–1923) oder die Radikalisierung des Antisemitismus" des Zentrums für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität in Berlin unter der Betreuung von Prof. Werner Bergmann und Prof. Ulrich Wyrwa.

[1] « Quelques voisins indignés » sind die Worte, welche die Unterzeichner benutzt hatten.

[2] Alle Informationen, die diese Affäre betreffen, wurden im Dossier n°866 556 de la Police des Etrangers aux Archives Générales du Royaumes à Bruxelles gefunden.

[3] Während des 19. Jahrhunderts wanderten in der Tat mehr Belgier aus, als Ausländer nach Belgien einwanderten.

[4] Xavier Mabille, Histoire politique de la Belgique : facteurs et acteurs de changement, Centre de recherche et d’information socio-politiques, 2000, S. 215.

[5] « Est déchu de la qualité de Belge, le Belge par option ou par naturalisation qui a manqué grièvement à ses devoirs envers la Belgique ou ses Alliés pendant la guerre ». Citat aus dem Buch : Xavier Rousseaux, Laurence Van Ypersele (Dir.), La patrie crie vengeance ! La répression des inciviques belges au sortir de la guerre 1914-1918, Edition Le Cri, coll « histoire, 2008, S. 200.

Cureghem Viertel
M.N. Adresse in Cureghem
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